Vor 40 Jahren: Aus einem fingierten Überfall wurde ein tödlicher Unfall

Vor 40 Jahren: Aus einem fingierten Überfall wurde ein tödlicher Unfall
Die Gedenktafel erinnert dort, wo der Pinzgauer abstürzte, an das Unglück von 1981. / Bild: Pedro Neuenschwander (pnz)
Kemmeriboden: Eine Gedenktafel auf dem Wanderweg ins Salwideli erinnert an den Militärunfall vor 40 Jahren, bei dem vier Rekruten starben. Was geschah am 15. Oktober 1981?

Der Pinzgauer war mit acht Soldaten besetzt, als er am Donnerstagmorgen, den 15. Oktober 1981, kurz vor 9 Uhr im Kemmeriboden in Richtung Schneebergli–Salwideli bei Sörenberg losfuhr. «Die acht Soldaten sollten unterwegs einen Überfall auf die nachfolgende Truppe vorbereiten», erinnert sich Heiner Invernizzi, der damalige Wirt des Gasthofs Kemmeribodenbad. Es sei wohl die letzte Übung vor Ende des Militärdienstes gewesen. «Kurz zuvor fand bei uns auf der Matte nämlich die Fahnenübergabe statt.» Gemäss Bericht in der «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) vom 16. Oktober 1981 handelte es sich um ein Bataillon der Versorgungstruppen-Rekrutenschule. Der fingierte Überfall sollte nie stattfinden. 


70 Meter abgestürzt

Etwa zwei Kilometer von Kemmeriboden entfernt, kam es zur Tragödie. «Laut Mitteilung der Luzerner Kantonspolizei geriet das Militärfahrzeug auf dem schmalen Weg nach rechts über den Wegrand hinaus und stürzte etwa 70 Meter gegen den Bärselbach, etwa 400 Meter vor dem Zusammenfluss mit der Emme, ab», schrieb die NZZ. Vier Rekruten starben noch an der Unfallstelle, drei Rekruten und ein Unteroffizier mussten ins Bezirksspital Langnau gebracht werden. Sie überlebten den Unfall.

Doch weshalb kam der Pinzgauer vom Weg ab? Im Prozess, der zwei Jahre später in Thun stattfand (siehe Kasten), wurde der Fahrer freigesprochen. Für ihn sei die mangelnde Stabilität der Strasse an der Unglücksstelle nicht erkennbar gewesen, rapportierte der «Tages-Anzeiger» am 26. November 1983 von der Gerichtsverhandlung. Auf der Absturzseite des Weges sei man sogar zu Fuss 25 bis 30 Zentimeter tief eingesunken. Ferner habe die vorspringende Felsnase dazu geführt, dass der Soldat nicht mehr ganz links gefahren sei, hielt der Gerichtspräsident Edwin Weyermann fest. 

Derrick Widmer, der Ankläger, beurteilte den landwirtschaftlichen Flurweg schon bei trockenen Verhältnissen als gefährlich. Es sei eine verrückte Idee gewesen, einen Pinzgauer auf eine drei Tage vom Regen aufgeweichte, dermassen gefährliche Strecke zu schicken. Er warf dem Übermittlungssoldaten, der am Steuer sass, jedoch vor, nicht rechtzeitig angehalten zu haben. Schon vorher habe er gefährliche Stellen passiert, die ihn zur Umkehr hätten bewegen müssen. 


Durch den Fluss zur Unglücksstelle

Einer der verunglückten Rekruten konnte sich retten. Er kletterte zum Weg hinauf, rannte in den Kemmeriboden zurück und schlug Alarm. Weil Heiner Invernizzi den Bärselbach vom Fischen gut kannte – er war Mitpächter des Grabens – wurde er angefragt, ob er von unten zur Unglücksstelle gelangen könnte. «Ich zog die Fischerstiefel an und ging los», erinnert er sich. Tatsächlich konnte er bis zur Unfallstelle vordringen. Ausrichten konnte er aber nicht mehr viel. «Die vier Rekruten waren schon tot, erschlagen oder ertrunken.» Eine Bergung vom Fluss her sei aussichtslos gewesen. Diese sei dann ab dem Weg erfolgt. Die Bergungsaktion habe sich im steilen und glitschigen Gelände als sehr schwierig erwiesen, hiess es in der Polizeimeldung.


Warum nicht die Rega?

Auch Fritz Gfeller vom Hof Schönisei, der vis-à-vis des Unfallortes liegt, erinnert sich an den 15. Oktober 1981. Aufgefallen sei ihm, wie lange es gedauert habe, bis das Militär mit der Rettung begonnen habe. Da seien gut und gerne zwei bis drei Stunden vergangen. «Ich hatte einen Freund bei der Rega. Er sagte mir, dass die Bergung über die Luft viel schneller erfolgt wäre und vielleicht der eine oder andere hätte gerettet werden können.» Doch das Militär habe die Rega nicht alarmiert, was er nicht verstanden habe.

Und so zeugt noch heute eine Tafel an der Stelle, wo der Pinzgauer in das Tobel hinunterstürzte, von den tragischen Ereignissen von vor 40 Jahren. Eingraviert sind auch die Namen der verstorbenen Rekruten. 

«Unwürdiges Schauspiel» am Pinzgauer-Prozess

Im Pinzgauer-Prozess vor dem Divisionsgericht 3 wurde einzig der verantwortliche Übungsleiter, ein Major, zu dreissig Tagen Gefängnis bedingt verurteilt. Er wurde wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung sowie des Missbrauchs und der Verschleuderung von Material schuldig gesprochen, wie der «Tages-Anzeiger» am 26. November 1983 berichtete. Der Major habe weder den Detachementschef noch den Instruktionshauptmann darüber orientiert, dass die gefährliche Strecke im Kemmeriboden nicht befahren werden dürfe. 

Der Auftritt und die Aussagen der befragten Personen liessen Gerichtspräsident Edwin Weyermann intervenieren. Die Vorgesetzten würden sich vor der Verantwortung drücken, das sei ein «unwürdiges Schauspiel». Jeder probiere zu ‹schlüfe›. «Warum kann man nicht sagen, wie es ist? Es machen alle Leute Fehler, die meisten Fehler haben Gott sei Dank nicht derartige Konsequenzen.» 

14.10.2021 :: Silvia Wullschläger (sws)