Hier wie dort

Ein Mann jagt über den Platz. Er schnauft und schwitzt, sein Gesicht ist zündrot und damit dunkler als sein weissblondes, raspelkurzes Haar. Im Rennen schlackern ihm seine Gummistiefel um die Waden. Vor ihm her galoppiert eine Kuh. Womöglich hat sie sich losgerissen. Das Seil, mit dem sie angebunden sein sollte, schlenkert hinter ihr her. Übermütig wirft sie ihr Hinteres in die Luft. Sägespäne spritzen in alle Richtungen, während sie vor ihrem Verfolger flieht. Neugierige Blicke wenden sich in Richtung des Spektakels.

Es ist Viehschau. Die Atemwolken der Tiere mischen sich mit dem Stumpenrauch der Viehzüchter und dem Dampf, der von Kuhfladen und
Kaffeebechern aufsteigt. Das Gemisch hängt als dunstige Glocke über dem Viehmarktplatz. Es riecht nach Sägemehl und Kuhmist, nach Villiger Kiel und Rössli 6. Die Luft summt vom Schnaufen und Muhen, vom Scharren, vom Rasseln der Ketten, an denen die Tiere mit Stricken angebunden sind, vom Reden, Lachen und Rufen der Viehalter, Helfer und Schaulustigen.

Angeblich gibt es in Guinea, West-afrika, in der Fula-Sprache eigens ein Wort für das Verfolgen einer ausgerissenen Kuh, welche noch einen Strick um den Hals trägt. Das hat mir der Mätthu erzählt, der hat eine Weile dort unten gelebt.

Ich finde das bemerkenswert. Was veranlasst ein Volk dazu, einen Ausdruck in seine Sprache aufzunehmen, welcher das Verfolgen von Kühen mit Strick um den Hals beschreibt?
Warum haben wir das nicht? Sind die Guineer Viehzüchter so unglaublich ungeschickt im Knoten binden? Sieht man in Conakry alle paar Minuten einen Bauern seiner Kuh hinterher-hetzen? Oder gibt es in Guinea einfach so viele Kühe, dass das sowieso verhältnismässig häufig vorkommt? Vielleicht ist es aber auch so, dass die Kühe dort nicht häufiger ausreissen als bei uns, nur ist das den Viehaltern hierzulande einfach so unglaublich peinlich, dass sie kein Wort darüber verlieren und folglich auch keines
dafür benötigen.

«Himmelheilandliebgottstärnesiech!», flucht der Blonde dem flüchtigen Tier hinterher. 

Mittlerweile hat die Kuh den Platz überquert. Ein Bärtiger tritt ihr beherzt in den Weg und wirft die Arme in die Luft, die Kuh scheut. Eine
Bäuerin kriegt sie beim Strickhalfter zu fassen und kann sie mit geübtem Griff im Nu bändigen. Jetzt ist auch der Rotgesichtige zur Stelle. Zugleich fluchend und dankend übernimmt er das Halfter seiner Kuh. Dann führt er sie zurück an ihren Platz zwischen den anderen Tieren.

Mit dem Knoten gibt er sich diesmal besonders Mühe.

08.10.2020 :: Peter Heiniger