Das Lied der Wildnis

Es herbstelt. Damit verändert sich die Geräuschkulisse. Im frühen Frühling künden die Rasenmäher jeweils samstags die wärmere Jahreszeit an. Im Sommer sind es die Hochdruckreiniger, die mit dem raren Wasser das letzte Moos aus den Waschbetonplatten spülen. Und jetzt im Herbst eben die elektrischen Heckenscheren und bald schon wieder die Laubbläser. Diese mechanisierten Helferlein schaffen mit wenig Aufwand Ordnung rund ums Haus. Ordnung ist wichtig und gibt uns Sicherheit in unsicheren Zeiten. Auch im Garten.

Aber was sehe ich da auf meinem Spaziergang durchs Quartier? Ein Wildblumen-Hochbeet. Nur schon sein Name: Wild-Blumen. Das wird wohl die Nachbarn ganz wild machen. Was nur, wenn der Samen einer solchen Wildblume auf den akkurat zurechtgeschnittenen Rasen fällt?
An einem Ort notabene, wo bis vor wenigen Jahren eine blumige Wiese und ein paar alte Hochstammbäume gestanden haben. Inzwischen ist diese Wildheit gebändigt mit schmucken Häuschen. Rund um diese jeweils ein paar Quadratmeter Rasen, auf dem garantiert nichts wächst, was die baren Füsse stören könnte.

Wir wollen uns die Welt und das Leben gerne so zurechtschneiden, wie es uns gefällt, wie es uns wohl ist und wie es unserer Vorstellung von Ordnung und Schönheit entspricht. Und wenn es nicht schön ist ums Haus, so wenigstens pflegeleicht. Leicht und pfleglich, so hätten wir es gerne.

Aber meist kommt es anders. Meist kommt irgendeine Störung. Oft unscheinbar und im Verborgenen. So ein Wildblumen-Samen zum Beispiel, der sich über Nacht im Rasen einnistet. Er überwintert still und heimlich. Und dann, wenn die Bedingungen gut sind und sich eine Gelegenheit ergibt, sprosst und wächst er in der Frühlingssonne. So gemein.

Wehe, wenn ich da nicht rechtzeitig eingreife. Wehe, wenn ich nicht frühzeitig darauf achte, dass die Ordnung bewahrt bleibt. Dann wird aus dem zarten Keim eine lästige Staude, deren Blätter stechen und deren Blüte wild blüht. Die Staude bildet alsbald Samen, welche der Wind weit herum in der ganzen Nachbarschaft streut. Ein Teufelskreis. 

Und im Schatten der Staude tummeln sich unversehens die Distelfinken und pfeifen ihr Lied. So wie in ebenjenem Wildblumenhochbeet. Ein Lied von der Wildheit des Lebens, von Natur und Kultur und dem Für und Wider der Nachlässigkeit, wenn man die Natur einfach geschehen lässt. Ein Lied, das ungewohnt ist und unerwartet. Wenn ich es denn höre zwischen der Heckenschere und dem Laubbläser.

24.09.2020 :: zz zz