Error compiling Razor Template (contact the administrator for more details)

Märchen in Gebärden erzählt

Märchen in Gebärden erzählt
Marina Ribeaud erzählt das Märchen von den zwei Wiesenmäusen in Gebärdensprache. / Bild: zvg
Trachselwald: Das Projekt, Märchen in der Gebärdensprache zu erzählen, zu filmen und so für gehörlose Kinder zugänglich zu machen, hat den diesjährigen Schweizer Märchenpreis der Stiftung Mutabor erhalten.

«Vor langer Zeit lebten zwei Mäuse auf der Wiese...» So beginnt das Märchen «Die zwei Wiesenmäuse», das von einer fleissigen und einer faulen Maus handelt und davon, wie am Schluss jede der anderen mit ihrer Begabung helfen kann und wie sie gemeinsam  glücklich werden. 

Um gegenseitige Unterstützung geht es auch beim diesjährigen Schweizer Märchenpreis der Mutabor Märchenstiftung in Trachselwald (Kasten unten links). Der Preis wurde dem «Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern» verliehen. Eines seiner Projekte ist es, Märchen in der Gebärdensprache zu erzählen, zu filmen und im eigenen Online-Magazin «ausgefuchst» zugänglich zu machen. «Diese Idee passt zu unserem Preis, mit dem wir die Vielfalt und das freie Erzählen von Geschichten aus aller Welt fördern und erhalten wollen», erklärt Djamila Jaenike, Mitgründerin der Mutabor Märchenstiftung. 

Helden mit Schwächen

«Märchen können insbesondere Kindern, die mit einer Einschränkung leben müssen und es nicht immer leicht haben, Mut machen», betont Djamila Jaenike. In vielen Geschichten sei die Hauptfigur keine Superheldin, sondern ein Sonderling mit offenkundigen Schwächen. Doch im Laufe der Geschichte entdecke die Hauptperson dann ihre Stärke und finde so einen Weg zu einem glücklichen Leben. 

Glücklich verlief auch der Kontakt zwischen dem «Verein zur Förderung der Gebärdensprache mit Kindern» und der Stiftung Mutabor. Bereits vor Jahren habe der Verein bei ihnen angefragt, welche Geschichten sich für das Projekt gut eignen würden, erzählt Djamila Jaenike. «Wir verfügen über einen riesigen Fundus und suchten gerne geeignete Geschichten aus.» Jedoch bekundete der Verein Mühe, die finanziellen Mittel für die Umsetzung aufzutreiben. Pro Film fallen Kosten von 1000 Franken an. Aus diesem Grund entschied die Stiftung Mutabor, das Projekt aktiv zu unterstützen: nebst dem mit 1001 Franken dotierten Märchenpreis wurde im Internet eine Spendenaktion gestartet, die über 7000 Franken einbrachte. So konnten bisher vier Märchen umgesetzt werden, weitere folgen.

Spezielles Erlebnis für gehörlose Kinder

Glücklich über den Preis und die Unterstützung durch die Märchenstiftung zeigt sich Patrick Lautenschlager. Zusammen mit seiner Frau Marina Ribeaud, die gehörlos ist, hat er den «Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern» gegründet (Kasten unten Mitte). Dank der Spendenaktion könnten sie nun mehr Geschichten in Gebärdensprache umsetzen als ursprünglich gedacht. 

Gehörlose Kinder hätten oft nicht die Möglichkeit, dass ihnen jemand ein Märchen in ihrer Sprache erzähle. «In der Schule steht meist die Vermittlung von Informationen und das Erlernen der Gebärdensprache im Vordergrund», erklärt der Vereinspräsident. Auch Zuhause sei das oft nicht möglich. 80 Prozent der gehörlosen Kinder hätten hörende Eltern. «Bis diese die Gebärdensprache genügend beherrschen, um eine Geschichte fliessend zu erzählen, sind die Kinder meist dem Märchenalter entwachsen.» 

Lust an der Sprache und am Fabulieren

Märchen seien besonders gut geeignet, um die Vielfalt der Gebärdensprache aufzuzeigen, betont Patrick Lautenschlager. «Sie sind fantasievoll und haben eine reiche Sprache.» Es kämen Wörter vor, die Gehörlose in der Alltagssprache oft nicht verwenden würden. «Auf diese Weise können wir den Wortschatz der Kinder erweitern, die Lust am Fabulieren wecken und ihnen gleichzeitig eine Freude bereiten», sagt der Vereinspräsident. Als Erzählerinnen fungieren gehörlose Gebärdensprachlehrerinnen. Sie übersetzen die Märchen nicht wortwörtlich, sondern erzählen frei in ihrem eigenen Stil. «Das unterscheidet sich deutlich vom Dolmetschen, das man etwa aus dem Fernsehen kennt», erklärt Patrick Lautenschlager. Dort gehe es um die reine Informa-tionsvermittlung in einer pragmatischen Sprache. «Beim Erzählen eines Märchens dagegen geht es um Poesie.» 

Auch den beiden Mäusen aus der Geschichte wird es am Ende warm ums Herz. «Komm», ruft die fleissige Maus, die sich einsam fühlt, der faulen zu. «Ich teile mit dir meine Vorräte, aber du musst den ganzen Winter mit mir tanzen, singen und plaudern!»


Tausende von Märchen

Die Mutabor Märchenstiftung mit Sitz in Trachselwald wurde 2003 von Djamila und Hasib Jaenike gegründet. Ihr Ziel ist die Förderung regionaler Erzählkultur, die Integration des Märchengutes ins tägliche Leben und den Erhalt von Schweizer Märchen und Sagen. «Das Erzählen gehört zu den ältesten soziokulturellen Tätig-keiten der Menschheit», schreibt die Stiftung auf ihrer Homepage. In den überlieferten Geschichten sei nicht nur Wissen und Brauchtum weitergegeben worden, auch der Umgang mit Angst, Schwierigkeiten, die Überwindung von Sorge und Leid, werde thematisiert.

Die Mutabor Märchenstiftung stellt mehrere Tausend Schweizer Märchen und Sagen aus ihrer Sammlung in einer Datenbank online zur Verfügung (www.maerchenstiftung.ch). In sieben Lesebibliotheken in der Schweiz stehen zudem über 6000 Bücher. Die Stiftung fördert Märchenabende, Erzählanlässe und verleiht einmal jährlich den Märchenpreis. Ihr sind über 400 ausgebildete Märchenerzählerinnen und -erzähler angeschlossen. Im Mutabor-Verlag werden eigene Märchenbücher und viermal jährlich die Zeitschrift Märchenforum herausgegeben.

Zugang zur Gebärdensprache

Der «Verein zur Förderung der Gebärdensprache bei Kindern» mit Sitz in Allschwil (BL) engagiert sich in der Vermittlung zwischen der Welt von Hörenden und Gehörlosen. Er setzt sich ein für die Gebärdensprache und für die Stellung der Gehörlosen. Gehörlose Kinder sollen einen Zugang zur Gebärdensprache erhalten. «Für hörende Kinder gibt es verschiedene Wege, die Sprache aufzunehmen: Gesprächen zuhören, Radio, TV, Kino, Schule, Spielplatz und vieles mehr», steht auf der Homepage des Vereins. Bei der Gebärdensprache sei es anders. Hier müssten Möglichkeiten geschaffen werden, um mit dieser Sprache in Kontakt zu kommen.

Zusammen mit dem Verlag Fingershop stellt der Verein Produkte her wie Bücher und Spiele zum Erlernen der Gebärdensprache. Weiter organisiert er Veranstaltungen für Gehörlose und Interessierte an der Gebärdensprache und stellt Informationen und Hilfsmittel für Eltern von gehörlosen Kindern bereit. Auf der Website www.ausgefuchst.ch wird ein Online-Magazin betrieben. Dort erscheinen Artikel in Gebärdensprache zu den unterschiedlichsten Themen sowie Lerntools. Auch die Märchen sind aufgeschaltet. 

Mit den Augen hören

Rund 10’000 Menschen in der Schweiz sind seit der Geburt gehörlos oder sehr stark schwerhörig. Fast alle nutzen in ihrem Alltag die Gebärdensprache. Gehörlose sind visuelle Menschen – sie «hören» mit den Augen. Zur Gebärdensprache gehören die Hände, die Arme, die Körperhaltung, die Mimik. Gebärdet wird in einem sogenannten Gebärdenraum vor dem Körper. Dort bilden die Gebärden Vergangenheit und Zukunft ab und beschreiben Personen und Ereignisse. Wer die Gebärdensprache schon als Kind im familiären Umfeld kennenlernt, entwickelt ein stärkeres Sprachbewusstsein und findet leichter Zugang zur Lautsprache. Die Gebärdensprache ist wie die gesprochenen Landessprachen weltweit unterschiedlich. In der Schweiz gibt es drei verschiedene Gebärdensprachen: deutschschweizerisch, französisch und italienisch. Innerhalb
der Deutschschweiz gibt es fünf Dialekte: Zürich, Bern, Basel, Luzern und St. Gallen. International ist eine rudimentäre Verständigung mit der «International Sign Language» möglich.

Quellen: Schweizerischer Gehörlosenbund
(www.sgb-fss.ch); Schweizerischer Hörbehinderten-verband (www.hoerbehindert.ch)

17.09.2020 :: Silvia Wullschläger (sws)