Nun verstehen sie mich, endlich!

Kolumne:

Ich kenne einen Mann, nennen wir ihn an dieser Stelle Andreas, der würde Ihnen, wenn Sie ihn antreffen, nicht besonders auffallen. Angenommen Sie sähen ihn im Zug, Sie würden sich nichts dabei denken. Er könnte unterwegs sein zur Arbeit oder hat vielleicht eine Verabredung ins Kino oder Konzert oder er kommt von irgendwoher nach Hause. Da ist nichts, was man ihm ansehen würde. Einfach ein junger, aktiver Mann auf seinem Weg.

Nur: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Andreas im Zug antreffen, ist sehr gering. Denn: er bewegt sich kaum in der Öffentlichkeit. Andreas plagen Ängste. Die Vorstellung, mit vielen fremden Menschen zusammen eng auf eng in einem Raum zu sein, aus dem er nicht jederzeit problemlos fliehen kann, löst in ihm Panik aus. Ich sage Ihnen: unter diesen Umständen geht man nicht ins Kino oder ins Konzert. Dort müsste die ganze Reihe aufstehen, wenn man, der Panik gehorchend, mitten in der Vorstellung raus müsste. Und ÖV ist auch nicht gut: Wenn der Zug fährt, kannst du ja nicht einfach rausspringen, nur weil du es drinnen grad nicht mehr aushältst. 

Wenn er unterwegs ist, dann meist nur, wenn er muss, zum Beispiel zur Therapie. Ein solcher Termin braucht tagelange Vorbereitung: Jemand muss ihn begleiten, damit er im Zug wenigstens nicht allein ist. Oder noch besser gleich mit dem Auto fahren, weil er selbst keines hat. Aber wer hat einfach so Zeit, mitten unter der Woche, mitten am Tag? Wenn es nicht klappt mit dem Fahrdienst, muss er den Termin absagen, weil es alleine einfach nicht geht… 

Und so bleibt Andreas notgedrungen die meiste Zeit zuhause. Kein Kino, kein Konzert. Keine Arbeit, keine Verabredung. Nichts mit jungem, aktivem Mann unterwegs, sondern Andreas allein zu Hause. Quasi Quarantäne auf unbestimmte Zeit.

Neulich sagte Andreas zu mir: «Auf einmal machen ganz viele Menschen die Erfahrung, wie es ist, wenn man nicht einfach so raus gehen kann. Wenn einem das kulturelle Leben verwehrt bleibt. Wenn man zuhause bleiben muss, obwohl man durchaus unternehmungslustig wäre. Wenn man sich zuhause eingesperrt fühlt. Alle erkennen, dass das etwas mit einem macht. Und niemand weiss, wie lange das noch andauern wird. Das macht Angst. Jetzt ist Angst normal. Nun verstehen sie mich. Endlich. Gegen diese Angst müsse man doch etwas tun, schreiben jetzt die Leute. Und plötzlich ist ganz viel Hilfe möglich, an jeder Ecke. Das darf nach der
Krise ruhig so bleiben.»

09.04.2020 :: zz zz