Emmental/Entlebuch: Der wohl stärkste Grippeausbruch der Geschichte forderte auch hier zig Opfer: Junge Männer, oft Soldaten, aber auch junge Mütter hinterliessen Lücken.
Ein Unterschied zur jetzigen Grippe, Covid-19, ist unter anderem, dass bei jener von 1918 vor allem jüngere Menschen betroffen waren. Dies stellte auch der damalige Pfarrer in Trubschachen, Theodor de Quervain, fest: «Die Erwachsenen unter ihnen stunden alle in den besten Jahren und lassen als Familienväter und -mütter sehr spürbare Lücken zurück.»
«Während sonst nirgends eine Todesursache aufgeführt wird, steht bei den Grippeopfern überall das Stichwort Grippe», hat Ruedi Trauffer herausgefunden, der die Kirchenrodel von Trubschachen gesichtet hat. Weiter hat er festgestellt, dass die Kirchgemeinde Trubschachen damals auch die Reformierten aus den benachbarten Gebieten des katholischen Kantons Luzern betreut hat. «Leute aus Wiggen, Escholzmatt und Marbach wurden zum grossen Teil auf unserem Friedhof beigesetzt.»
Es stimmt einen nachdenklich, wenn man die Namen und Geburtsjahre der insgesamt 17 Grippeopfer liest, welche die Kirchgemeinde Trubschachen zu beklagen hatte. Wohlgemerkt, die 17 Toten machten fast die Hälfte aller Beerdigungen in Trubschachen aus – oder anders ausgedrückt: Es mussten von Juli 1918 bis April 1919 fast doppelt so viele Menschen bestattet werden wie in einem «normalen» Jahr. Die Menschen, welche von der Grippe dahingerafft wurden, waren alles andere als alt: sechs Kinder, wobei das jüngste zwei und das älteste acht Jahre zählte; weiter drei Frauen und acht Männer im Alter von 23 bis 43 Jahren.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in der arg gebeutelten Gemeinde Schangnau: Drei Viertel der Grippeopfer waren zwischen einem und 40 Jahren. Frappant ist die Zahl der Grippetoten: 18 Menschen fielen 1918 in der kleinen Gemeinde dem Virus zum Opfer– mehr als in den Vorjahren insgesamt Bestattungen im Rodel aufgeführt sind.
Wie die Grippe die Armee dezimierte
Bekanntlich wütete in dieser Zeit auch der Erste Weltkrieg und jüngere Männer hatten Militärdienst zu leisten, wobei sich viele im Aktivdienst ansteckten. So erstaunt es nicht, dass beim ersten Todesfall in Zusammenhang mit der Grippe in der Kirchgemeinde Trubschachen der Zusatz «gestorben im Militärdienst» notiert wurde: Hans Christen, 23-jährig, wurde am 15. Juli 1918 auf dem Friedhof in Trubschachen beigesetzt. Wie stark die Grippe der Armee zusetzte, zeigt sich unter anderem am Beispiel des Gebirgsbataillons 40. Major Otto Weber war Kommandant der Kompanie III und verfasste detaillierte Aufzeichnungen. Die 40er, welche sich fast ausschliesslich aus Männern aus dem Amt Signau rekrutierten, mussten Mitte Mai 1918 wieder einrücken und wurden in verschiedenen Orten in der Ajoie einquartiert. Zunächst bestimmte das Soldatenleben den Alltag: «Hier wurden nun unsere Leute neu gedrillt und dabei so recht verärgert, da alles, was man bis jetzt gelernt hatte, nichts sein sollte», hielt der Major fest. Doch dann trat ein neuer Feind auf den Plan: «Ende Juni brachen die ersten Grippefälle bei der Truppe aus; scheinbar ein harmloses Fieber, da in den ersten Fällen die Leute nach vier bis fünf Tagen geheilt zur Truppe zurückkehren konnten. Als ich am 8. Juli aus der Schiessschule in Walenstadt zur Einheit zurückkehrte, lagen in Roncourt bereits 80 Mann im Stroh, davon mindestens 40 mit hohen Temperaturen. Von Ausbildung war keine Rede mehr, eine Dislokation der ersten Kompanie nach Damvant wurde abgesagt, ebenso ein Bataillons-Gefechtsschiessen. Alle Gesunden mussten helfen, Kranke zu pflegen.» Am schlimmsten stand es bei der ersten Kompanie, welche innert zwölf Tagen elf Tote zu beklagen hatte. Auch bei einem Eintrag im Totenrodel von Schangnau ist zu lesen, dass ein 26-jähriger Mann im Dienst bei der Kompanie 47/I verstorben sei. Auch der Major Otto Weber erkrankte an der Grippe, überlebte diese aber. Er musste sich allerdings während Wochen in einem sogenannten Offizierskrankenzimmer behandeln lassen, das in einer Villa in Pruntrut eingerichtet worden war. Die Grippe raffte bei den 40ern insgesamt 35 Soldaten dahin – allessamt kräftige Männer, die noch vor Jahresfrist eine wahre Gewaltsleistung vollbracht hatten: Die Verschiebung vom äussersten Zipfel im Jura zur italienischen Grenze, zu Fuss und zu Pferd – und das in zwölf Tagen!Nun hatten die Soldaten andere Aufgaben: Der Major schreibt weiter: «Die noch wenigen Gesunden hatten genug zu tun, die toten Kameraden in die Heimat zu begleiten, wo sie ihnen die letzte Ehre erwiesen auf den heimischen Friedhöfen: ‹Drei Schüss’ ins kühle Grab, die ich verdienet hab›, wie wir früher so oft zusammen gesungen hatten!» – aus dem Soldatenlied war bitterer Ernst geworden.
Wenn der Bräutigam im Aktivdienst stirbt
Auch Fritz Scheidegger von Twären in der Gemeinde Trub war bei den 40ern. Er war mit Elisabeth «Lisi» Wüthrich von der Balm-egg in Trub verlobt und die Braut war bereits schwanger. Wegen des Aktivdienstes hatten die beiden noch nicht geheiratet, als der Soldat im Sommer 1918 in Pruntrut an der gefürchteten Grippe erkrankte und schliesslich starb. Fritz Scheideggers letzter Wunsch war, dass das Kind dennoch den Familiennamen Scheidegger erhalten soll. Dieser wurde ihm gewährt: Am 9. Januar 1919 erblickte ein kleiner Bub das Licht der Welt, der später Balmegg-Fritzli genannt worden sei, wie Lokalhistoriker Hans Minder erfahren hat. «Lisi», die Mutter des Buben, heiratete später übrigens nicht mehr. Schlimm war die Situation wegen der Grippe auch auf dem Hof Längenbach in der Nähe von Emmenmatt. «Dort hatten sie wegen der Grippe drei Leichen auf einmal im Haus», weiss Hans Minder: der Bauer Emanuel Bigler, dessen erwachsene Tochter, Rosalie Bigler, und dessen Schwägerin Marie Bigler-Röthlisberger. Wie recht doch der Trubschacher Pfarrer, Theodor de Quervain, mit seiner Bemerkung hatte, dass die Verstorbenen sehr spürbare Lücken zurückliessen.