Der grosse Michelangelo soll einmal gefragt worden sein, ob es denn nicht sehr schwierig sei, aus einem Steinblock eine Löwenskulptur zu schaffen. Er soll geantwortet haben: «Nein, das ist ganz einfach. Der Löwe ist schon im Stein drin. Man muss nur all das wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht.» In dieser Anekdote klingt etwas vom Understatement eines grossen Künstlers an, aber auch eine Lebensweisheit. Wer bin ich? Bin ich geworden durch fleissige Arbeit an mir selbst und durch all die Prägungen und Einflüsse, die von aussen auf mich gekommen sind? Oder bin ich der geworden, der schon immer in mir angelegt war? Sind Menschen beliebig form- und erziehbar oder werden sie das, was sie werden müssen, entgegen allen Bemühungen von Erzieherinnen, Erziehern und Umwelt? Dahinter steckt denn auch die grosse Frage, ob ich mich so akzeptieren muss, wie ich bin – oder ob ich mich so formen kann (und soll), damit ich mir und den anderen gefalle. Ich vermute, man wird das nie klar entscheiden können. Wir haben wohl alle unsere Charakterzüge, die wir nie loswerden, noch wenn wir das möchten. Und in anderen Bereichen verändern wir uns, werden geprägt von Glück und Unglück, von Mitmenschen und Zeitgeist. Gereifte Menschen werden wir, so vermute ich, wenn wir beides in Übereinstimmung bringen können – oder bildhaft gesprochen: Wenn der Löwe in uns Gestalt annimmt. Und dafür muss man oftmals all das wegschlagen, was nicht nach Löwe aussieht. Es wäre wohl einfacher, so zu werden wie die anderen. Man könnte abschauen, Rezepte befolgen, einem Vorbild nacheifern. Sich selbst zu werden ist anspruchsvoller. Man muss sich selbst finden, muss diesen Löwen in sich lieben lernen und sichtbar machen – oder diesen Moses oder David oder diese Madonna.