Das Ziel: «Die Schmerzen reduzieren und die Lebensqualität erhöhen»

Das Ziel: «Die Schmerzen reduzieren und die Lebensqualität erhöhen»
Thomas Böhlen behandelte während 17 Jahren Schmerzpatientinnen und -patienten am Spital Emmental. / Bild: Nina Dick
Emmental: Seit 20 Jahren befasst sich Thomas Böhlen mit dem Thema Schmerz. Er hat das Schmerzzentrum am Spital Emmental aufgebaut und weiss aus Erfahrung, wovon er spricht.

Bei einem Sturz mit dem Velo in den Ferien auf Bali brach sich Thomas Böhlen das Genick. Nach einer Operation in einem Privatspital vor Ort wurden ihm die Schmerzmittel über einen Katheter verabreicht. Schon bald konnte er in die Schweiz repatriiert werden. Drei Monate später habe er bereits wieder Patienten behandelt, erzählt der Facharzt FMH für Anästhesie und Schmerztherapie. Schritt für Schritt – im wahrsten Sinne des Wortes – hat er sich zurück in den Alltag gekämpft. «Ich bin täglich gelaufen, am Anfang nur einige Meter, dann immer weiter.» Trotzdem sei es ein Wunder, dass er heute ohne Einschränkungen und Schmerzen leben könne. 

Thomas Böhlen weiss also nicht nur aus der Theorie, wie sich Schmerzen auf den Menschen auswirken. Seit 2006 ist er am Spital Emmental tätig und hat am Standort Burgdorf das Schmerzzentrum aufgebaut. Ende Februar lässt sich der 66-Jährige pensionieren – jedenfalls fast. 


Herr Böhlen, die Menschen, die zu Ihnen kommen, wünschen sich ­wahrscheinlich nichts sehnlicher
als Schmerzfreiheit. Eine hohe ­Erwartung.

Aber eine oft nicht realistische, und das sage ich den Leuten auch. Wer ins Schmerzzentrum kommt, leidet schon seit längerer Zeit an Schmerzen, entsprechend komplex ist die Behandlung. Bei chronischen Schmerzen ist es meist das Ziel, diese auf ein erträgliches Mass zu reduzieren, so dass die Leute wieder mobiler sind. Das wirkt sich dann auch positiv auf die Lebensqualität aus.   


Sie sprechen von chronischen ­Schmerzen. Wann treten diese auf?

Früher sagte man, dass ein Schmerz chronisch ist, wenn er während dreier Monate Tag und Nacht andauert. Meine Erfahrung ist, dass dies viel schneller gehen kann. Manchmal reichen zwei, drei Wochen, vor allem, wenn auch Nerven verletzt sind. Man geht davon aus, dass fünf Prozent der akuten Fälle chronisch werden.  


Wer ist besonders gefährdet?

Menschen, die während Jahren schwere körperliche Arbeiten ausführen, haben ein grösseres Risiko, weil sie im Alter oft an Arthrose leiden. Übergewicht ist im Zusammenhang mit Gelenk- und Rückenschmerzen ebenfalls ein Risikofaktor. Auch wenn man Schmerzen nach einer Verletzung oder Operation nicht oder zu wenig bekämpft, kann er chronifizieren.  


Was heisst das?

Der Schmerz macht sich sozusagen selbständig, breitet sich im Körper aus und wird zum Dauerzustand. Die körpereigenen Schmerzfilter im Gehirn versagen. Der Schmerz ist keine lokale Reaktion mehr auf eine Ver­letzung oder Krankheit, sondern entwickelt sich zum eigenständigen Krank­heitsbild. 


Mit welchen Folgen?

Der Körper befindet sich in einer permanenten Stresssituation mit Auswirkungen auf den Blutdruck, den Kreislauf und die Verdauung, aber auch auf die Psyche. Viele Menschen ziehen sich zurück, sie schlafen nicht mehr, es kommt zur Tag-Nacht-Umkehr, eine Negativspirale setzt ein. Die Gefahr, an einer Depression zu erkranken, nimmt zu.  


Das ist sehr komplex – wo setzen Sie bei der Behandlung an?

Zuerst höre ich dem Patienten zu. Es ist sehr wichtig, dass er sich ernst genommen fühlt. Dann frage ich ihn, was er sich für Behandlungen vorstellen könnte. Viele sagen etwa, dass
sie keine starken Medikamente oder Spritzen wollen. Es folgen Unter­suchungen und eine Sichtung des Bildmaterials. Schliesslich erklärte ich dem Patienten, welche Behandlungsmöglichkeiten infrage kommen. 


Diese sind am Schmerzzentrum vielfältig. Sie reichen von medikamen­tösen Therapien und Schmerzpumpen über Laser bis zu Akupunktur und Hypnose. 

Ja, denn die Behandlung muss für die Patientin stimmen und sich natürlich auch für das jeweilige Krankheitsbild eignen. Weil dieses meist komplex ist, arbeiten wir eng mit anderen Fachpersonen zusammen, so etwa mit der Orthopädie, der Neurologie, der Onkologie, der Rheumatologie und der Psychiatrie. 


Was können die Betroffenen selber beitragen, damit sich ihre Situation verbessert? 

Ich sage ihnen jeweils, dass sie möglichst wieder ihren Alltagstätigkeiten nachgehen sollen. Die Schwierigkeit ist, dass sich viele Menschen fallen lassen, wenn sie wieder Schmerzen verspüren. Ich ermutige sie, trotzdem dranzubleiben. Wer abgelenkt ist, etwa wenn er sein Hobby ausübt, hat in dieser Zeit weniger Schmerzen.


Sie haben 2006 mit den Schmerz-Sprechstunden begonnen, das
Angebot wurde stetig ausgebaut.
Wo sehen Sie noch Potenzial?

Bis jetzt können wir am Schmerzzentrum nur ambulante Behandlungen durchführen. Für manche Behandlungsmethoden, etwa Infusionstherapien, ist aber ein stationärer Aufenthalt nötig. Das wäre sicher eine sinnvolle Ergänzung.


Sie könnten diese nicht mehr nutzen, Ende Februar gehen Sie in Pension – jedenfalls ein bisschen.  

Ja, mein Mandat für das Spital Emmental läuft Ende Februar aus. Ich werde aber noch einen Tag pro Woche am Schmerzzentrum Berner Oberland tätig sein. Ausserdem beabsichtige ich, weiterhin Auslandeinsätze für das Swiss Surgical Team zu absolvieren. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, unentgeltlich nachhaltige und langfristige medizinische Entwicklungsprojekte durchzuführen. Im Vordergrund stehen dabei die Aus- und Weiterbildung des medizinischen Fachpersonals.


Wissen Sie schon, wo Sie als nächstes
hinreisen werden?

Falls sich die politische Situation in und um Tadschikistan nicht stabilisiert in den nächsten zwei, drei Monaten, werde ich dort wahrscheinlich erst im Herbst dieses Jahres wieder einen Einsatz leisten können. Dies würde aber sicherlich dazu führen, wieder ein neues Team zu bilden und noch einmal von vorne zu beginnen, da wir auch während der Coronazeit keine Einsätze mehr durchführen konnten. Ich helfe mit, ein Schmerzzentrum aufzubauen, wie wir das zuvor bereits in der Mongolei gemacht haben. Dort existieren mittlerweile drei Schmerzkliniken – für 3,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Das sind ganz andere Verhältnisse als bei uns in der Schweiz.

23.02.2023 :: Silvia Wullschläger (sws)