Tomaten- Paradies

Tomaten- Paradies
Zum Reinbeissen: Eine reife Tomate der Sorte «Grosse Moskvitch». / Bild: Gertrud Lehmann (glh)
Konolfingen: Hier gedeihen Tomaten, wie sie niemand kennt: Alte Sorten in viel­fältigen Farben und Formen, die ohne die Organisation Pro Specie Rara und Brigitte Hess längst ausgestorben wären.

Wenn am kommenden Wochenende, 22. und 23. August, zahlreiche Gärten von Pro Specie Rara-Sortenbetreuerinnen und -betreuern die Tore öffnen, erwartet auch Brigitte Hess in Konolfingen Besuch. Sie engagiert sich seit 20 Jahren für alte Gemüse- und Blumensorten, deren Samen Pro Specie Rara ihr zur Verfügung stellt. Sie ist Sortenbetreuerin und ihre Favoritin ist die Tomate. Sage und schreibe über 100 Sorten hat sie schon angebaut.

Ein Paradiesgarten

Es dauert lange, bis sich die Tür nach dem Klingeln öffnet. Brigitte Hess kommt mühsam an Krücken angehumpelt. Sie ist nach einem schweren Unfall beim Schlitteln im letzten Winter noch nicht wieder ganz genesen. Entsprechend sehe auch ihr Garten nicht perfekt aus, bedauert sie. Dies, obwohl die Besucherin das Gefühl hat, im Paradiesgarten angekommen zu sein. Die Plätzchen zum Verweilen in der parkähnlichen Oase sind einladend, wenn auch nicht hunderte von Blumen blühen wie sonst. Die Gärtnerin hat das Frühjahr im Bett liegend verpasst. Im Gemüsegarten herrscht ein wenig Wildnis, und auch die frechen Schnecken haben bemerkt, dass die Gärtnerin sie nicht, wie sonst, verfolgen kann. Doch das Unperfekte hat auch seinen Reiz, und was auffällt: Überall spriessen Tomaten. Zwischen Blumen, im Gemüsebeet, hier und da, kleine und grosse Stauden. «Das sind Findelkinder, die sind von selbst gekommen», erklärt Brigitte Hess. Als wüssten sie, dass sie ihre Lieblinge sind und ganz gewiss nicht ausgerissen werden. Eigentlich gehören die Tomaten ja ins Glashaus, wo sie jeden Tag mehrmals besucht, begutachtet und begossen werden. Tomaten sind nämlich «Süf-fel». Krücken hin oder her, die Betreuerin lässt sie nicht im Stich, und natürlich redet sie auch mit ihnen.

Gelernte Gärtnerin ist Brigitte Hess wider Erwarten nicht, sie hat eine kaufmännische Ausbildung. Doch als sich nach der Heirat vier Kinder einstellten, musste sie wohl oder übel zuhause bleiben, denn Krippenplätze gab es zu jener Zeit noch kaum. Als ihr Traum vom Eigenheim wahr wurde, gehörte «als Geschenk» ein grosser Umschwung dazu, weil früher ein Bauernhaus hier gestanden hatte. Nun entdeckte sie als Familienfrau ein neues Talent: das Gärtnern. Dank Lektüre, Kursen, langjähriger Erfahrung und viel Fleiss begann das Geschenk sich in das zu verwandeln, was es heute ist: ein Paradiesgarten. Überall spriesst und blüht es. Nicht nur Blumen, Gemüse und Küchenkräuter, auch Sträucher und Bäume und Wildpflanzen wuchern. Und in all der Wildnis entdeckt man zufällig ein paar Hühner, zwar eingezäunt, aber glücklich im Grünen. Sie liefern nicht nur Eier, sondern auch wertvollen Dung. Da Brigitte Hess biologisch gärtnert, verzichtet sie auf Kunstdünger und Spritzmittel. Statt Grünabfuhr gibt es mehrere Kompostbehälter und im Schuppen mixt sie eigenhändig Präparate aus Magermilch, Schmierseife oder Schachtelhalm gegen Pilzerkrankungen oder Schädlinge.

Alte Sorten sind besser

Als Selbstversorgerin bemerkte Brigitte Hess vor vielen Jahren, dass die gekauften Tomatensetzlinge einfach nicht die Früchte lieferten, die sie seit ihrer Kindheit liebte. Sie fand die Schale zäh, den Geschmack fad, die Auswahl klein. Was interessierte sie, dass die Tomaten transportfähig und lange haltbar waren? Sie suchte den betörenden Gout der frisch geernteten Tomaten ihrer Kindheit. Darum wandte sie sich an Pro Specie Rara, und bot sich als Sortenbetreuerin an. Sie wurde nicht enttäuscht. Begeister kultivierte sie nun auch alte Sorten von Peperoni, Bohnen, Linsen, Winterkopfsalat, Pfingstrosen, Tagetes und Geranien. Tomaten aber blieben ihre Favoriten. Nachdem ihre Kinder die überzähligen Setzlinge geschäftstüchtig am Strassenrand an Nachbarn verhökerten, kam sie auf die Idee, einen Handel aufzuziehen. Zur Freude ihrer Kundschaft bietet sie über 100 Sorten an, nicht nur in Tomatenrot, sondern gelbe, grüne, violette, weisse und schwarze in allen möglichen Grössen und Formaten. 

Nur die Freude zählt

Tomatenzüchten sei eine relativ einfache Sache, sagt Brigitte Hess. Man klaube die Samen beim Essen aus den Früchten, gebe sie einige Zeit in ein Glas Wasser und trockne sie später. Dann brauche es Aussaaterde und Geduld und die richtige Temperatur. Und wahrscheinlich einen «grünen Daumen» – das verschweigt sie aber. Leider muss sie dieses Jahr ihre Kunden enttäuschen, da sie wegen des Unfalls nicht arbeiten konnte. Die verbliebenen Pflanzen hegt sie jedoch liebevoll und wird die Zucht mit Hilfe der Samenbank von Pro Specie Rara bald wieder erweitern. Nicht dass das Geschäft mit den alten Sorten sie reich gemacht hätte. Jedenfalls nicht finanziell. Aber seit die Kinder aus dem Haus sind, ist Gärtnern ihr Lebensinhalt. Und Grund genug, bald wieder gesund zu werden, denn sie möchte von niemandes Hilfe abhängig sein. Trotzdem freut es sie, wenn eines der Kinder oder der sechs Grosskinder ihr an einem freien Samstag im Garten Gesellschaft leistet und hilft. Gertrud Lehmann

Pro Specie Rara – «Für seltene Sorten» – setzt sich ein für den Erhalt vielfältiger Nutzpflanzen (und Tiere). 650 ehrenamtliche Sortenbetreuer und -betreuerinnen haben an Samenbaukursen die nötigen Kenntnisse erworben, um die 1600 verschiedenen Gemüse-, Getreide- und Zierpflanzensorten anzubauen. Das Wochenende der offenen Gartentür in der ganzen Schweiz ist auch eine Plattform, um neue Interessenten zu finden. Unter www.offenergarten.ch findet sich eine Liste mit den Gärten, die am 22. und 23. August geöffnet haben.

20.08.2020 :: Gertrud Lehmann (glh)