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968 Nachrufe, 968 Geschichten

968 Nachrufe, 968 Geschichten
Der Friedhof in Schangnau. Jede verstorbene Person hat ihre einzigartige Geschichte. / Bild: Erhard Hofer (hol)
Emmental: Von 1992 bis 2000 sind in der «Wochen-Zeitung» fast 1000 Nachrufe erschienen. Anna Kilchenmann hat sie gesammelt und die Berufe sowie Familienverhältnisse der Verstorbenen analysiert.

Seit bald 44 Jahren gibt es die «Wochen-Zeitung». Viele Rubriken sind in dieser Zeit neu geschaffen und später wieder abgeschafft worden. Eine jedoch hat sich über all die Jahre gehalten: der Nachruf.

Oft bringen einen die Nachrufe zum Nachdenken, manchmal auch zum Staunen. Jeder einzelne ruft uns die Würde des gelebten Lebens in Erinnerung. Und jeder sagt etwas darüber aus, wie sich die Lebensumstände verändert haben. Vor diesem Hintergrund haben wir sämtliche 968 Nachrufe, die von 1992 bis 2000 in der «Wochen-Zeitung» erschienen sind, gesammelt und ausgewertet. Die Inhalte für die Nachrufe stammen in der Regel von den Hinterbliebenen, in die Endfassung gebracht werden die Texte oft von Pfarrerinnen oder Mitarbeitern der Zeitung. Einiges gehörte standardmässig zum Text, anderes wurde bewusst oder unbewusst auch verschwiegen. Befragen konnte man ja die Toten nicht mehr. Gewisse Ungenauigkeiten muss man also in Kauf nehmen.


Bauern und Bäuerinnen

Unter den Verstorbenen waren 499 Männer und 469 Frauen. 218 Männer (44 Prozent)waren Bauern, was dem Bild vom ländlichen Emmental durchaus entspricht. Gemäss dem «Historisch-statistischen Atlas des Kantons Bern» waren 1910 etwas über die Hälfte der Bevölkerung im ersten Sektor beschäftigt, 1950 waren es immer noch rund die Hälfte, erst 1990 nur noch knapp ein Drittel. Bei den verstorbenen Frauen wurden 205 Bäuerinnen angegeben, also ebenfalls 44 Prozent.

Emmentaler Bauernhöfe sind oft Familienbetriebe, bei denen das Wissen vom Vater auf den Sohn weitergegeben wird. Nur bei 11 Bauern wurde erwähnt, dass sie eine landwirtschaftliche Schule besucht haben (Schwand, Rütti). Kein Wunder, denn die landwirtschaftliche Schule auf der Bäregg wurde erst 1974 eröffnet.

Speziell erwähnt wurden noch 34 Älpler, Küher und Hirten. Deren Bedeutung ist im Lauf der Zeit kleiner geworden. Bei den 16 Jägern und 10 Störmetzgern handelt es sich wohl meist um bäuerliche Nebenberufe, ebenso wie Klauenschneider oder Obstkundige. Die allermeisten Bauern wirtschafteten auf eigenem Grund und Boden, wir fanden nur 13 Pachtverhältnisse.


Handwerker

Bei den Handwerkern dominieren Berufe der Holzbearbeitung, etwa Schreiner und Zimmerleute. Ebenso sind die Käser mit 10 Männern gut vertreten. Seltener sind Schmiede, Bäcker und Metzger, erst recht Sattler, Korbmacher und verschiedene Tätigkeiten der Werkzeugmacherei. Zweimal entdeckten wir auch die Bezeichnung «Tannenstumper» – jene Männer, die eine Tanne entasten, bevor sie gefällt wird.

In der Freizeit machte man in einigen Familien Musik, gute Spieler konnten dann wohl auch bei Festen, Tanzanlässen oder Hochzeiten auftreten und sich so einen Batzen dazuverdienen. Weniger einträglich, aber dennoch beliebt war das Vereinstheater. Pfarrer und Lehrer, ebenso Beamte, kommen in den Nekrologen kaum vor, sie hatten sich vielleicht anderenorts Alterssitze erwählt oder aber wollten keinen Nachruf.


Nebenberufe

Bei den Frauen gab es an ausgebildeten Berufen fast ausschliesslich Schneiderinnen, 22 an der Zahl. Weiter wurden die in den Dörfern vorhandenen Tante-Emma-Läden (13) meist von Frauen geführt. Ebenso dürften bei den 11 erwähnten Wirten oftmals auch deren Frauen im Betrieb tätig gewesen sein. Ferner werden mittlerweile ausgestorbene Berufe erwähnt, etwa derjenige des Bahnwärters respektive der Bahnwärterin. Diese schlossen von Hand die Schranken, wenn ein Zug nahte. In Sumiswald arbeiteten Frauen zudem in der Tabakfabrik.

Insgesamt haben wir 155 vollberufliche Handwerker gezählt. Viel höher war die Zahl der Hilfsberufe und nebenamtlich
Tätigen (343). Darunter waren etwa Wegmacher, Handlanger oder Gemeindearbeiter. Man muss sich bewusst sein, dass bei vielen Emmentaler Höfen die Betriebsbasis einfach nicht ausreichte, um zu überleben, und daher ein Zusatzverdienst nötig war.

Noch kurz zum Heiratsverhalten: Dass junge Bauern wenn möglich Bauerntöchter heirateten, ist selbstverständlich. Einheiraten von nichtbäuerlichen Töchtern kamen vor, konnten dann aber bisweilen zu fami-liären Problemen mit der Schwiegermutter führen. Bei den Bauern ist das Heiratsalter relativ breit gestreut und liegt nicht selten über dem 30. Altersjahr, bei den Frauen hingegen meist unter 25 Jahren – lediglich sechs der rekonstruierbaren Fälle waren über 30.

Den Kinderreichtum früherer Bauernfamilien verstehen wir heute kaum mehr. Nun, Kinder waren eben damals auch für den Betrieb notwendige Arbeitskräfte, schon früh mussten sie kleinere Aufgaben übernehmen. Ab etwa 5 oder 6 Kindern hatte man allerdings oftmals «unnötige Esser» am Tisch. Solche «überschüssigen Kinder» wurden dann nicht selten bei weniger kinderreichen Familien fremdplatziert, ein solcher Austausch war keineswegs unüblich oder moralisch anrüchig.


Pflegekinder

Die Zahl der Kinder hat von Generation zu Generation abgenommen. Bei den 968 verstobenen Menschen, deren Nachrufe wir analysiert haben, zählten die Herkunftsfamilien insgesamt 4211 Personen. Die Verstorbenen selbst hatten zusammengezählt noch 2894 Kinder. Die grösste der Herkunftsfamilien war 17 Kinder gross, auch bei der Verstorbenen war eine Person mit 17 eigenen Kindern. Man kann vermuten, dass die Riesenfamilien Freikirchen angehörten, bei denen der Kindersegen sich einstellte, weil man das biblische Gebot «Wachset und mehret Euch» wörtlich nahm. Mit den genannten Zahlen kann man noch die durchschnittliche Kinderzahl angeben: Bei den Herkunftsfamilien waren es 4,3 Kinder, bei den eigenen 3.

In letzter Zeit sind die Verdingkinder in den Fokus einer kritischen Öffentlichkeit geraten, weil sie vielfach rüde behandelt wurden und deshalb nun auf eine Entschädigung hoffen. Man sollte sich hier allerdings vor Pauschalurteilen hüten. Es gab auch Verdingkinder, die einen durchaus guten Platz fanden und den eigenen Kindern fast gleichgestellt werden. Arbeit, auch strenge, war auch für die Meisterskinder damals selbstverständlich, sie diente schliesslich der Einübung des zukünftigen Berufs. Insgesamt fanden wir in den fast 1000 Nachrufen 59 Verdingkinder oder in Pflegefamilien Untergebrachte. Sie stammten aus kinderreichen Familien oder solchen, bei denen ein Elternteil verstorben war. Es sind rund 6 Prozent, wobei vermutlich nicht ganz alle Fälle erwähnt sind.

Zur Autorin: Anna Kilchenmann (1949) war von 1988 bis 2011 in eigener Praxis für Psychiatrie in Langnau tätig. Sie hatte während dieser Zeit gute Möglichkeiten, Land und Leute des Emmentals kennenzulernen. Von daher kam auch das Interesse, die in der «Wochen-Zeitung» erschienenen Nachrufe als historische Quelle zu sammeln.

04.07.2024 :: Anna Kilchenmann