«Sterben soll als ein natürlicher Teil des Lebens angesehen werden»

«Sterben soll als ein natürlicher Teil des Lebens angesehen werden»
Jedes Leben neigt sich irgendwann dem Ende zu - darüber reden, empfinden viele Menschen als schwierig. / Bild: Rebekka Schüpbach (srz)
Emmental: Barbara Affolter ist Leitende Ärztin der Palliative Care im Spital Emmental. Sie findet, auch über das Sterben sollte man reden können, denn es sei ein Teil des Lebens.

«Palliative Care? Dort könnte ich nie arbeiten», hört die Leitende Ärztin Barbara Affolter ab und zu. Das Vorurteil, wonach es in ihrer Abteilung ausschliesslich darum geht, die Patienten im Sterbeprozess zu begleiten, ist jedoch falsch. «Am häufigsten behandeln wir an metastasiertem Krebs erkrankte Patientinnen und Patienten teilweise schon kurz nach ihrer Diagnose», erklärt sie, «gefolgt von Menschen mit Lungenkrankheiten wie COPD oder fortschreitenden Nervenkrankheiten wie Parkinson.» Die erste Zeit nach der Diagnose sei für die Betroffenen und ihre Angehörigen oft eine der schwierigsten, weiss die Ärztin. «Ihr ganzes bisheriges Leben wird auf den Kopf gestellt.» Deshalb sei eine frühe Begleitung und umfassende Beratung durch medizinische Fachpersonen gerade in dieser Phase besonders hilfreich. Viele Betroffene wüssten gar nicht, dass es die Angebote der Palliative Care gibt und dass sie diese in Anspruch nehmen dürfen.


Die Uhren ticken anders

In der Palliative Care arbeiten Pflege und Ärzteschaft eng mit den anderen involvierten Spezialisten aus den Fachgebieten der Onkologie und Physiotherapie sowie Psychologie zusammen. Dabei gehe es nicht nur um die richtigen Medikamente und Therapien. Ebenso wichtig sind Gespräche – etwas, für das andere Ärztinnen und Ärzte oft wenig Zeit haben. In der Palliativmedizin ticken die Uhren diesbezüglich etwas anders und es wird viel Wert auf den mündlichen Austausch gelegt. «Oft entstehen dadurch viel umfassendere und tiefgründigere Beziehungen zu den Menschen, als es unter anderen Umständen möglich wäre», erzählt Barbara Affolter. Dies sei einer der Gründe, weshalb sie sich vor sieben Jahren definitiv für die Palliative Care entschieden habe.


Palliativmedizin wird wichtiger

Die Kontakte bestehen gelegentlich über Jahre hinweg, denn unheilbar krank sein, heisst heutzutage noch lange nicht, dass man gleich stirbt. Früher war das anders und die Lebenserwartung dementsprechend tiefer. Heute aber, erklärt Barbara Affolter, könne die moderne Medizin viele unmittelbare Todesfälle abwenden und Krankheitsverläufe verzögern. Das führe jedoch zu mehr chronisch Kranken, also Menschen, die über lange Zeit krank bleiben und mit wenigen oder mehr Einschränkungen leben müssen. Tendenz steigend. Aus diesem Grund werde die Palliativmedizin in Zukunft immer wichtiger, ist die Ärztin überzeugt. Momentan unterhält das Spital Emmental nur am Standort Burgdorf eine Abteilung. Ab März 2025 wird es auch in Langnau Palliative-Care-Betten geben.


Wie mit Betroffenen reden?

Trotz medizinischem Fortschritt, irgendwann ist jedes Leben zu Ende. Barbara Affolter wünscht sich, dass Sterben wieder als ein natürlicher Teil des Lebens angesehen wird. Angst vor dem Tod habe sie nicht, sagt die 48-Jährige. Auch bei schwierigen Sterbeprozessen könne man den Patientinnen und Patienten heute Linderung verschaffen. 

Aussenstehende wissen oft nicht, wie sie sich gegenüber Betroffenen verhalten sollen. Was rät Barbara Affolter? «Das Schlimmste ist es, die Strassenseite zu wechseln, um Begegnungen zu vermeiden», sagt die Medizinerin. Ebenfalls schlecht sei es, sich so zu verhalten, als wäre nichts geschehen und das Thema komplett zu ignorieren. Stattdessen rät sie, offen und empathisch auf die Menschen zugehen. «Wie geht es dir heute?», sei eine mögliche Einstiegsfrage. Dabei dürfe man ruhig erwähnen, dass man unsicher sei und keine Worte finde, wenn dem so ist. Auch Fragen zu einer Krankheit zu stellen sei durchaus erlaubt, sofern die Patientin oder der Patient gerne darüber sprechen. «Betroffene gehen unterschiedlich mit dem Thema um.» Dies gelte es zu respektieren.


«Brügge boue»

Schwellenängste abbauen und Brücken schlagen zum Thema Sterben und Tod will auch das Spital Emmental mit weiteren Partnerorganisationen. Deshalb führt das Spital heute Donnerstag den Anlass «Brügge boue» an verschiedenen Standorten in Burgdorf durch. Am Abend gibt es auch im Dahlia Lenggen in Langnau eine Veranstaltung zum Thema. Ziel ist es, das Ende des Lebens in ein anderes Licht zu rücken und das Reden darüber zu normalisieren. Auf der Webseite findet sich dazu das passende Zitat von Barbara Affolter: «Nur wenn wir das Kranksein und Sterben als Teil des Lebens akzeptieren, können wir das Möglichste aus unseren und den Tagen von Betroffenen machen.»

24.10.2024 :: Rebekka Schüpbach (srz)