Alles hat zwei Seiten

In den letzten Tagen hat mich die Landschaft verzaubert. Die Farben der Laubbäume sind reich und intensiv. Die verschiedensten Herbstfarben sind wie ein grosser Zauber. Man konnte ob dieser Buntheit zum Schwärmen kommen. Ich habe mich gefragt: Will diese leuchtende Angelegenheit den kommenden Winter ein wenig gemächlicher machen? In dieser Jahreszeit sind wir eingeladen, unsere Vergänglichkeit nicht zu vergessen. Wir sind und bleiben Wanderer auf dieser Erde. Wir Menschen können etwas zerstören, jedoch auch etwas neu aufbauen. Im Grunde genommen wäre es gut, dass wir «das Buch unserer Natur» ein wenig besser kennenlernen und der Sorgfalt Zeit und Phantasie schenken würden. Dann würden einige Gesichter, denen wir begegnen, ein Lächeln hervorzaubern oder  auch mit einem kurzen Schwatz eine Brücke bauen. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Wort «Schwatz» einige beleidigt. Das Leben ist doch eine ernste Angelegenheit! Eines scheint mir wichtig: Es ist nicht gut, wenn wir im Leben einfach stehen bleiben, uns gleichsam hinter einen Vorhang verstecken und unter Umständen Trübsal blasen. Wir sollten einmal mehr die wunderbare Natur im Herbst anschauen. Von ihr könnten wir sehr viel lernen: Die Vergänglichkeit ist ebenso wichtig wie das Spriessen im Frühling.

Folgende Zeilen des Herbstgedichtes von Rainer Maria Rilke will dies unterstreichen:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.


So viele Blätter fallen auch in unserem Leben. Der späte Herbst gibt uns einmal mehr die tiefe Einsicht: Auch wenn es schmerzt, Abschied zu nehmen – das gehört zum Leben. Jedoch die Hoffnung ist und bleibt gross, dass wir glauben dürfen: In seinen Händen sind wir geborgen und getragen.

27.10.2022 :: Jakob Zemp