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Meerweh

Ich finde die Schweiz schön. Als Emmentalerin kann man sich nicht beklagen. Doch vor lauter Hügel und Berge haben die hier das Meer vergessen. Nebst den jährlichen Ferien, meist am Mittelmeer, versuche ich so einiges, um diesen Mangel auszugleichen. Es gibt bei mir drei verschiedene Stufen von Meerweh: rot, orange und grün: In der Stufe grün ist mein Meerweh wahrnehmbar, ich kann es aber leicht ausgleichen, durch eine Prise mehr Meersalz in der Pasta und ein paar ­Muscheln als Deko beim Znacht. 

Die Stufe orange ist schon schwieriger. Da habe ich meist nach dem «mehr Meersalz-Znacht» und der Muscheldeko immer noch Meerweh. Es müssen also noch mehr Meerkompensationen her. Ich schaue dann entweder Fotos von früheren Meeresferien oder Free Willy. 

Wie Sie sich denken können, ist grün und orange nichts gegen Stufe rot. Stufe rot in Sachen Meerweh ist so schmerzhaft, dass es weder mit Filmen noch mit Dekorationen auszugleichen ist. Es braucht so richtig erlebbares Meeresfeeling. Da muss die ganze Familie mithelfen. Da wird Fisch gekocht, damit es in der Wohnung schön fischelet. Es werden im Wohnzimmer Badetüchter auf den Boden gelegt und Wärmelampen zum Sünnele. Ich schmeisse mich ins Bikini und meine kleine Tochter bekommt ihr Plastikkroki aufgeblasen. Es gibt ein Glacé, das mein Mann singend durch die Stube in ­einem Wägeli an uns vorbei fährt. Wir kaufen es ihm mit den Euros ab, die von den letzten Ferien übrig geblieben sind. Ich sitze dann in die Badewanne und streue Salz ins Badewasser. Zirka drei Ventilatoren laufen, um Wind und damit ein paar Wellen zu erzeugen. Nebenan haben wir einen Kübel voller Sand aufgestellt, damit meine Tochter sändele kann. Meist passe ich fast nicht in die Badewann mit Schnorchel und Flossen. Aber wo ein Wille, da ist auch ein Weg. 

Doch ganz ehrlich: Stufe rot ist mühsam und nicht mehr zeitgemäss! Deshalb kann ich mittlerweile aus öko­logisch und ethischen Gründen nicht mehr hinter meinem massivem Meerweh stehen. Es kann nicht sein, dass eine Schweizerin «derewä» meersüchtig ist. Das geht unter kulturelle Aneignung! Sowas ist heutzutage proble­matisch. Auch der ganze Energieaufwand, um zu Hause etwas Meeres­gefühle zu bekommen, ist nicht mehr vertretbar.

Ich versuche nun tapfer zu sein, die Berge zu feiern, da sie mein angeborenes Kulturgut sind, welche ich legal toll finden darf. Ab und zu, wenn trotz jeglichen Verbotstafeln das Meerweh ganz schlimm zu mir durchdringt,
lege ich mir eine klitzekleine Muschel ­unters Kopfkissen. MEER nicht!

15.09.2022 :: Fabienne Diessel-Krähenbühl