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I gseh, i gseh, was du nid gsehsch?...

Auf der Kapellbrücke in Luzern steht eine kleine Holzbank. Die kennen Sie vielleicht. Gleich in der ersten Biegung, wenn Sie die Brücke von der Bahnhofstrasse her betreten. Dort würde ich mich gerne hinsetzen, wenn ich in Luzern bin, und die Menschen beobachten. Aber meistens reicht die Zeit ja nicht. Neulich hätte ich Zeit gehabt und wollte mich also auf dieses Bänklein setzen, doch es war bereits besetzt. Es sassen dort zwei Verliebte. Die hielten einander so fest und eng umschlungen, man konnte kaum erkennen, wer wo beginnt und wer wo aufhört. Ungeachtet der Pilger und Passanten, die an ihnen vorüberströmten, sassen sie da, mehr auf- als nebeneinander und küssten sich.

Einige Schritte von den beiden entfernt stand ein alter Mann mit Bart, Karohemd und Hosenträgern, groben Schuhen. Klassisch unbedarfter Bergler-Chic. Ein Öhi, wie aus einem Spirig-Roman. Er stand da, die Ellenbogen aufs Geländer gelehnt und blickte über das Wasser gegen die Altstadt. Ein ums andere Mal äugte er zu den Zweien auf dem Bänklein hinüber. Dann schüttelte er diskret empört den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf die Altstadt, bis er erneut zu dem Pärchen blicken musste. Vielleicht ­hätte ja auch er sich gerne auf das Bänklein gesetzt. 

Wieder ein paar Schritte weiter standen zwei junge Frauen. Touristinnen von weit weg, wie mir schien. Sicher waren sie vor kurzem erst von einem Reisebus ausgespuckt worden, sicher hatten sie schon vor dem Löwendenkmal posiert und jetzt noch rasch über die Brücke, ein paar Fotos und dann zurück zum Parkplatz, wo der Bus sie wieder schlucken würde und wo sie anschliessend im weichen Sitzpolster sitzend auf ihren Displays würden schauen können, was sie gerade ge­sehen hatten. Sie lehnten sich über das Brückengeländer, um mittels Selfie­stick ein Bild von sich zu knipsen. Als urchig authentischer Hintergrund und eigentliches Motiv, der Mann mit Bart, der nicht bemerkte, dass er soeben zur Fototrophäe wurde.

Einige Schritte weiter stand ich und beobachtete, wie sie den Eingeborenen bestaunten, der immer wieder zu den Zweien auf dem Bänklein schielte, welche als einzige nur Augen für ihr Gegenüber hatten.

Und während ich dieses Gruppenbild betrachtete, fragte ich mich, wer wohl in dem Moment gerade mir zuschaut, und was diese Person jetzt wohl ­gerade denkt.

Später überquerte ich die Reuss über den Rathaus-Steg. Unterwegs winkte ich gegen die Kapellbrücke, dem Bärtigen oder den Touristinnen oder sonst wem.

01.09.2022 :: Peter Heiniger