«Die Klassen sind zu gross, die Schulen brauchen mehr Support»

«Die Klassen sind zu gross, die  Schulen brauchen mehr Support»
Auf der Suche nach einer Lehrerin greifen immer mehr Schulen auf Quereinsteigerinnen zurück. / Bild: Shutterstock
Bern/Luzern: Am Montag startet das neue Schuljahr. Viele Schulen haben zwar genug Lehrpersonen gefunden, mussten aber Kompromisse eingehen. Der Lehrkräftemangel ist noch nicht behoben.

Knapp 80 Kinder gehen in Oberthal zur Schule. Es gibt eine Unter-, eine Mittel- und eine Oberstufe. Dazu kommt die Eingangsstufe (Kindergarten), die bisher von zwei Lehrerinnen gemeinsam geführt wurde. Auf Ende Schuljahr hat eine der beiden Co-Klassenlehrerinnen gekündigt. Die Stelle wurde im Frühling ausgeschrieben, trotz grossem Aufwand bei der Suche meldete sich eine einzige Bewerberin. Eine Quereinsteigerin ohne Unterrichtserfahrung.

Die Frau bekam die Stelle und machte sich ans Vorbereiten. Je länger, je mehr merkte sie aber: «Es passt nicht.» Gut zwei Wochen vor Schulbeginn beschloss sie, nun doch nicht als Lehrerin einzusteigen.


Pensionierte reaktiviert

Schulleiter Raphael Tröhler blieb nichts anderes übrig, als die Stelle erneut auszuschreiben. Oberthal könne mit einem familiären Umfeld und einem aufgestellten Kollegium punkten, sagt er. Andererseits hat die Gemeinde keinen ÖV-Anschluss. Tröhler macht sich keine Illusionen: Eine bereits ausgebildete Co-Klassenlehrperson zu finden, «ist in der momentanen Situation praktisch unmöglich».

Denn landauf, landab herrscht Lehrkräftemangel. Mitte Juni waren im Kanton Bern noch 279 Stellen für Lehrpersonen unbesetzt. In der Not schrieben die Behörden laut eigenen Angaben 2000 pensionierte Lehrerinnen und Lehrer an. Auch Berufsleute aus anderen Branchen wurden aufgerufen, als Lehrperson einzusteigen. An einigen Orten kreierten Kinder bunte Stelleninserate. Zudem kommen über 1000 Studierende bereits im Unterricht zum Einsatz.

So ist es mittlerweile gelungen, viele Stellen zu besetzen. Gestern Mittwoch waren im Kanton Bern noch 25 unbefristete und 18 befristete Stellen offen. Die betroffenen Schulen müssen im schlimmsten Fall Klassen zusammenlegen oder Angebote streichen. Im Kanton Luzern wurden Anfang Woche noch eine Klassenlehrperson sowie einige Fach- und Förderlehrkräfte gesucht.


Quereinsteiger angesprochen

Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, setzen sowohl Luzern wie auch Bern unter anderem auf Quereinsteigerinnen und -einsteiger. Es sei wichtig, diese im Alltag zu unterstützen und ihnen Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten, betonen die Behörden. «Das erfordert einen grossen Aufwand für die Schulleitung, die Klassenlehrpersonen und das Kollegium», ist sich Rebecca Holzer von der bernischen Bildungs- und Kulturdirektion bewusst. «Andererseits haben wir Rückmeldungen, dass gerade diese Berufsneulinge besonders motiviert sind und eine Bereicherung für die Schule sein können.»

Der Berufsverband Bildung Bern setzt sich dafür ein, dass Kinder von ausgebildeten Personen unterrichtet werden. Andere Berufe – etwa in der Medizin – dürften auch nur von qualifizierten Leuten ausgeübt werden, sagt Anna-Katharina Zenger von Bildung Bern. Lehrerinnen und Lehrer, welche die Ausbildung nicht nachholten, seien wohl die ersten, die im Fall von genügend Personal die Schule wieder verlassen müssten.


Viele Studierende, aber...

Für den Mangel an Lehrpersonen sieht Bildung Bern mehrere Gründe: die steigenden Schülerzahlen und die Pensionierungswelle der Babyboomer, aber auch «die vernachlässigte Anpassung der Rahmenbedingungen, eine zu hohe Belastung der Lehrpersonen und – im interkantonalen Vergleich – nicht durchwegs konkurrenzfähige Löhne». Der Oberthaler Schulleiter Raphael Tröhler sagt es so: «Die Klassen sind zu gross, und der Kanton muss die Schulen besser unterstützen.» Zum Beispiel, indem er mehr Teamteaching-Lektionen bewillige.

Trotzdem wollen nach wie vor viele junge Leute in den Lehrerberuf einsteigen und studieren an der Pädagogischen Hochschule Bern. «Wichtig ist, dass die Ausgebildeten dann auch tatsächlich in den Schuldienst eintreten und lange in hohen Pensen unterrichten», gibt Anna-Katharina Zenger von Bildung Bern zu bedenken. Deshalb brauche es eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Das kommt auch bei den Kantonen an. Bern handelt (siehe Text rechts). Auch Luzern hat soeben eine Analyse der Anstellungsbedingungen, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie der Belastung der Lehrpersonen in Auftrag gegeben. Daraus wollen die Behörden «Massnahmen ableiten, wie der Lehrerberuf wieder attraktiver gemacht werden könnte».


Doch noch ein Happy End

Und in Oberthal? Auf die Stellenausschreibung zwei Wochen vor Beginn des neuen Schuljahres meldeten sich tatsächlich fünf Bewerberinnen und Bewerber. Darunter zwei junge Frauen ohne Unterrichtserfahrung zwar, die aber beide als Fachfrau Betreuung bereits Erfahrungen mit Kindern gesammelt haben. Eine der beiden hat die Stelle nun erhalten – und kann gleich am Montag anfangen. Zusammen mit der bisherigen Co-Klassenlehrerin wird sie im Team unterrichten, wird Schritt für Schritt an den Lehrerberuf herangeführt.

«Wir sind erleichtert», sagt Schulleiter Raphael Tröhler. «Sehr erleichtert.»

11.08.2022 :: Markus Zahno (maz)