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Den Faden nicht verlieren

Wir standen vor knapp 20 Jahren mitten in Offenburg auf der Brücke, die über die Bahngleise führt, auf denen die ICE´s durchrauschen, als meine 16-jährige Tochter sagte: «Hier kann man sich gut umbringen.» 

Entsetzt rief ich: «Bist du bescheuert? Sowas will ich nie wieder hören!»
Pädagogisch war das keine Glanzleistung. Mein Entsetzen kam aber bei ihr an. In diesem Alter hatte ich mir auch ab und zu vorgestellt, wie es wäre, aus dem Leben zu gehen. Meine familiäre Situation war damals desolat und der Gedanke, mich an den Erwachsenen zu rächen, faszinierte mich. Doch es blieb glücklicherweise beim Gedankenspiel. 

Nun ist dieses Thema für mich wieder da. In meinem unmittelbaren Umfeld hat sich ein 19-Jähriger umgebracht. Als ich vor ein paar Wochen davon erfuhr, hat es mir den Atem geraubt. Ein junger Mann hatte ganz für sich alleine beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ja, er hatte Probleme. Nach dem Schulabschluss wusste er nicht, welchen Beruf er ergreifen sollte. Zudem setzte ihm der Krieg in der
Ukraine zu, den er akribisch auf den sozialen Medien verfolgte. Aber hey, diese Probleme gibt es vermutlich in vielen Familien. 

Wenn sein Tod einen Sinn gehabt haben soll, dann wünsche ich mir, dass wir Lebenden auf unsere Jugendlichen aufpassen. Die Pandemie hat ihnen über lange Strecken das genommen, was sie am meisten stützt: ihre gleichaltrigen Freunde. Kaum wurde der
Virus-Spuk berechenbarer, ging der Krieg in der Ukraine los, was schon für uns Erwachsene schwer zu ertragen ist. Es ist aber schwierig, einzuschätzen, was das alles mit jungen Menschen in der Pubertät macht. Denn in der Phase der persönlichen Entwicklung ist der Druck, klarzukommen, nicht einfach auszuhalten. 

Ich habe mit einer Pfarrerin gesprochen, die sich um selbstmordgefährdete Jugendliche kümmert. Diejenigen, die es versuchten, sind froh, überlebt zu haben und sagen meist, sie hätten das nicht so gemeint. Junge Menschen sind oft laut, chaotisch, unerträglich, und wenn man sie fragt, wie es ihnen geht, sagen sie: «Alles easy!» Manchmal reicht es schon, ein zweites Mal nachzufragen, um mehr zu erfahren. Den Faden nicht verlieren, ein offenes Ohr haben, Zeit nehmen, unterstützen – damit kann schon viel verhindert werden. 


Es gibt Stellen, an die man sich in Krisen wenden kann: Rund um die Uhr, vertraulich und kostenlos: Zum Beispiel die Dargebotene Hand: Telefon 143 oder www.143.ch, für Kinder und Jugendliche: Telefon 147 oder www.147.ch oder auch Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch

05.05.2022 :: Christina Burghagen (cbs)