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Griff nach der Krone

6. Januar – heute ist der Tag, auf den ich mich knapp zehn Monate lang minutiös vorbereitet habe. Kennen Sie auch das Gefühl, Jahr um Jahr zu
verlieren? Es ist wie eine Klatsche ins Gesicht. Auch wenn die Chancen gleichmässig verteilt sind, was aber nur scheinbar der Fall ist, so gibt es im Januar immer wieder aufs Neue Gewinner und Verlierer.

Da ich es leid bin, ständig die Niete des Tages zu sein, habe ich beschlossen zu schummeln. Nur dieses eine Mal. Die Vorbereitung dazu war gar nicht schwierig, denn wie üblich
übernahm ich im Vorfeld die ganze Arbeit. Wie jedes Jahr war ich sehr geduldig bei der Herstellung des
Teiges, schlug, knetete und wartete im Wechsel, bis ich das Werk in Form gebracht hatte. Nun ging es drum, die kleine schwarze Plastikfigur in einem Batzen zu verstecken, bevor der königliche Ring auf das Backblech wanderte. Dann, als der Teig unschuldig vor mir lag, markierte ich mit winzigen Ritzen jenes Stück, in dem sich die Insigne der Macht versteckte. Nun würde ich, ich allein, wissen, wo sich dieser Schatz befand. Rein in den Ofen, backen und heute frisch auf
den Tisch.

Freudig sitzt die Familie um den Tisch. Neben dem herrlich duftenden Gebäck liegt die Krone. Innerlich
lache ich mir schon ins Fäustchen, als ich Tee und Kaffee ausschütte und meine erwartungsvoll zappelnden Tischnachbarn beobachte. Ich sehe, wie die Augen über das Gebäck hin zur Krone und wieder zurück schweifen. Die ersten Finger zucken. «Der Verlierer darf anfangen, so lautet das ungeschriebene Gesetz der Fairness», sage ich. Lange Gesichter, letztlich quält sich eine Zustimmung zögerlich über die Lippen der Familie. Ich
drehe den Kranz und suche meine Markierung. Schweiss tritt auf meine Stirn, denn die Batzen sehen alle gleich aus. Erfolglos drehe ich den Kranz unter dem Gejohle der
anderen hin und her. Wo sind die verdammten Kerben? Unsicher ziehe ich ein Stück von dem Kuchen ab. In
Sekundenschnelle verschwindet der Rest sogleich in vorpreschenden Händen. Die Enttäuschung über den
Jubelschrei vom anderen Ende des Tisches ist riesig. Mein Sohn angelt sich die Krone. Zeit für meinen Plan B: die Schuhcreme, denn der heutige König ehrt Melchior. Lange habe ich nach einem schwarzen Königsfigürchen suchen müssen, aber es bewährt sich nun. Der Jubel verstummt. Mein Sohn legt die Krone ab, schiebt mir das Figürchen hin. Also übernehme ich die Regentschaft für den Monarchen, der auf seine Königswürde verzichtet. Immerhin ein halber Sieg… 

06.01.2022 :: Martina Jud