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In wilder Fahrt

Herbstlicher Spätnachmittag im Park einer Kleinstadt im Mittelland. Ich habe hier nachher noch einen Auftritt, bin aber etwas zu früh angereist. Um die Zeit zu überbrücken, habe ich mich mit einem Sandwich in diese Grünanlage gesetzt. Durch die beinahe kahlen Äste eines Kastanienbaumes scheint mir die Oktobersonne müde ins Gesicht. Sie gibt sich Mühe. Dennoch, dass bald schon wieder Winter ist, schleckt keine Geiss weg.

Zu meinen Füssen liegen ein paar stachelbewehrte Kastanienhüllen. Sie sind fleckig, aufgesprungen und leer. Interessanterweise liegen da kaum Kastanien. Wahrscheinlich ist die Spielgruppe schon vorbeigekommen. Ich wette, Zahnstocher-Kastanientierchen kommen niemals aus der Mode – ein richtiger Evergreen. 

Während ich mein Sandwich kaue, schaue ich mir die Leute an. Eine Frau mit praktischem Kurzhaarschnitt liest in einem Taschenbuchroman. Der Einband lässt auf etwas Romantisches schliessen. Mutmassliche Mütter schieben plaudernd Kinderwagen durch den Park. Auf dem Spielplatz sind ein Vater und seine Tochter beim Seilkarussell beschäftigt. Der Vater schiebt an, das Mädchen sitzt auf dem unteren Ring, es hält sich in den groben Tauen fest. Es legt seinen Kopf in den Nacken und lehnt sich zurück. Die Fliehkraft zerrt an seiner Mähne, lässt sie flattern. «Schneller!», ruft das Kind, «schneller, Papa!» Der Vater greift erneut in das Seilgeflecht, rennt sogar ein paar Schritte mit, gibt kräftig Schwung und lässt es drehen. Und nochmal. Und nochmal. Das Mädchen jauchzt und gluckst vor Freude.

War das nicht erst gestern, als unsere Kinder in einem solchen Karussell hingen und mich antrieben, sie schneller drehen zu lassen? «Schneller, Papa, schneller!» – Meinetwegen.

«Letzte Runde!», rief ich, wenn mir die Dreherei dann langsam verleidete. Jetzt erinnere ich mich gar nicht, wann diese letzte Runde war.

Wo ist die Zeit bloss hin?

An meinem dreissigsten Geburtstag sagte mir jemand, der es wissen muss: «Wirst sehen, die nächsten dreissig
Jahre verfliegen doppelt so schnell wie die letzten.»Ich glaube, der Mann hat untertrieben.

Nur eine Erinnerung entfernt, da kralle ich mich selber mit aller Kraft in die rauen Taue, während die Welt um mich her in bunte Schlieren zerfasert und die Fahrt mir den Atem raubt, hart am Grat, wo Schwindelrausch in Übelkeit zu kippen droht.

Ein Blick auf die Kirchturmuhr verrät mir, dass ich los muss. Ich schiebe mir den letzten Bissen meines Sandwiches in den Mund und mache mich auf.

Schon wieder höchste Zeit.

28.10.2021 :: Peter Heiniger