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Hirschbrunft mit Erinnerungslücken

Wenn sich im Herbst die Blätter färben, fängt die Hirschbrunft an. Neben lautem Geröhre hört man die Tiere ihre Geweihe aufeinander schlagen. Das Schauspiel kann jeder ein paar Wochen belauschen und beobachten, dann sind die Regeln geklärt. Das Gerangel ist vergessen und wird sich erst wieder einstellen, wenn dem Hirsch im Herbst erneut die Hormone durchgehen oder er sich von einem Nebenbuhler ernsthaft bedroht fühlt. 

Der Mensch steht dem Hirsch in nichts nach. Besonders eindrücklich war das bei den Wahlen in Deutschland zu beobachten. Vorab wird innerhalb der Partei um Macht und Zuspruch gebuhlt, so lange, bis die Herde sich für ihren Rudelführer entscheidet. Dann geht es in die nächste Runde. Die Debatten sowie das Gerangel um Positionen wird härter. Stimmen prallen aufeinander. Die Worte sind geschliffen und gewetzt – auch wenn es bloss für Fake-News reicht. Doch damit lässt sich Präsenz markieren und das Revier mit aller Macht verteidigen. 

Die Kämpfe der Triell-Gladiatoren verfolgen die Zuschauer genüsslich auf den Rängen oder am Fernsehen, auf sozialen Medien und in Zeitungen. Allerdings sind Manipulationen heute viel listiger und anspruchsvoller als noch zu Zeiten Cäsars. Durchaus auch viel effektiver. Aber jetzt steht ein Ergebnis fest, halbwegs, aber immerhin – und eigentlich sollte es wie nach der Brunft mit dem alltäglichen Leben weitergehen. Tja, da haben es die Tiere leichter. Sie vergessen einfach den Machtkampf. Der Mensch nicht. Er überlegt sich weitere Schritte, sucht andere Wege und wenn nötig neue Gefährten. Denn nach der Wahl beginnt der Kampf wieder von vorn. Aber genau da machen sich Erinnerungslücken breit. Ganz besonders prädestiniert sind hier wieder die Rudelführer. Hatte man sich vorher die Mühe gemacht, mehr als 1000 Seiten Wahlprogramm zu schreiben und sich ins gute Licht zu rücken, ist die Lage nachher ganz anders. Es braucht Revier-Partner – und eine Rangordnung. Da verliert man im Kampf mal ein Geweih oder es werden die Versprechungen an den Wähler vergessen und neue wie auf einem Viehmarkt ausgehandelt. Denn mit der Nase am Wind der Macht wird wieder geröhrt. Diesmal allerdings andere Töne. Partei-Herden, die sich vorher abgelehnt hatten,
nähern sich, um gemeinsam die Führung zu übernehmen. Schwarmtiere, die sich gegenüber ihren Auserwählten loyal verhalten wollten, hacken ihnen nun die Augen aus. Einige Platzhirsche scheinen den Weg an ihre
Position vergessen zu haben und
verlieren sich im Nirgendwo. 

14.10.2021 :: Martina Jud