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Alle fallen

Der hiesige Sommer war nicht gross. Auf die Sonnenuhren war oft kein Verlass, die Regenwolken waren zahlreich und schöpften aus dem Vollen. Längst ist der Herbst ins Land gezogen. «Die Blätter fallen, fallen wie von weit / als welkten in den Himmeln ferne Gärten / sie fallen mit verneinender Gebärde», schreibt Rainer Maria Rilke. Normalerweise bin ich froh, wenn Hitzetage und tropische Nächte vorbei sind. Dieses Jahr verspüre ich Wehmut. Der Sonnenspeicher konnte nicht recht gefüllt werden, schon gehts wieder auf kältere und kürzeste Tage zu. Sowieso ist man vorsichtig geworden in den letzten Monaten. Man hat gelernt, dass ganz schnell ganz vieles anders werden kann. «Und in den Nächten fällt die schwere Erde / aus allen Sternen in die Einsamkeit.» Ja, gibt man seinen Sorgen des Nachts Raum, wird alles Schwere und Schwierige noch schwerer und noch schwieriger. Ich bin jeweils froh, wenn der Morgen vieles wieder in ein anderes Licht rückt. «Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: es ist in allen.» Auch in Flora und Fauna kommt es zu Veränderungen: Die letzten Rüebliraupen sind verpuppt, die Mutigen fliegen noch los. Auch die Schildkröten spüren die kommende Winterruhe und fressen spärlich. Die verbliebenen Tomaten vermögen kaum mehr zu reifen und zu wachsen. Tageslicht und Sonnenwärme sind zu schwach. Sonnenblumenköpfe sind schwer und richten sich nicht mehr nach dem Licht. Die Natur fällt dem Winter entgegen. «Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.» Zu diesem Schluss kam der deutsch-österreichische Dichter in seinem Gedicht «Herbst». Man kann sich dem Fallen hingeben, auch wenn man nicht weiss, ob da jemand ist, der hält. Mit Wehmut und Zuversicht.

14.10.2021 :: Susanne Kühni