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Einfach besser lesen und schreiben

Einfach besser lesen und schreiben
Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche sind oft überfordert, wenn sie Formulare verstehen und ausfüllen sollen. / Bild: Silvia Wullschläger (sws)
Bildung: Über eine Millionen Erwachsene in der Schweiz haben Mühe mit Lesen, Schreiben oder Rechnen, obwohl sie hier die Schule besucht haben. Die Kampagne «einfach besser» will darauf aufmerksam machen und Betroffenen helfen. So wie Janine H.

Der Montagabend ist bei Janine H. fix verplant. «Andere gehen in ein Training oder an eine Chorprobe, ich in einen Kurs, um besser lesen und schreiben zu lernen.» Seit vier Jahren ist sie regelmässig Teilnehmerin. Nur wegen der Corona-Einschränkungen gab es letztes Jahr eine längere Pause beziehungsweise der Kurs fand via Zoom statt. Mit den digitalen Medien hat sie noch Mühe, deshalb will die 55-Jährige noch einen Computerkurs belegen. 

In der Schweiz leben rund 400´000 Erwachsene mit Schwierigkeiten, einfache Rechenaufgaben zu lösen, obwohl sie die Schule hier besucht haben. Doppelt so viele können nicht genügend lesen und schreiben. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung nur über geringe oder gar keine digitalen Grundkenntnisse verfügt. Diese Zahlen hat der Schweizerische Dachverband für Lesen und Schreiben veröffentlicht, ein Partner der Kampagne «einfach besser» (siehe Kasten). 


Unterfordert und nicht gefördert

Paula Klemt ist Leiterin der Botschaftergruppe Lesen und Schreiben der Fachstelle für Grundkompetenzen im Kanton Bern. «Es gibt viele Gründe, weshalb jemand Defizite bei den Grundkompetenzen aufweist», sagt sie: eine Seh- oder Hörschwäche, die in der Schulzeit nicht erkannt wird, eine Familie, die oft umzieht, eine unerkannte Aufmerksamkeitsstörung oder Legasthenie. «Es braucht nicht viel, dass ein Kind in der Schule den Anschluss verpasst.»

Janine H. hat nie die Regelschule besucht. «Man steckte mich schon früh in eine Behindertenschule, wie man damals sagte.» Dort sei sie am falschen Platz gewesen. Der Unterricht habe sie gelangweilt, mit der Zeit habe sie abgehängt. Das habe niemanden interessiert. Von individueller Förderung keine Spur. Nach Ende der Schulzeit absolvierte Janine H. eine zweijährige Lehre als Gärtnerin. «Ich konnte mir gut merken, welche Pflanzen welche Pflege brauchen, mit den Namen aber hatte ich grosse Mühe.» Die Defizite beim Lesen und Schreiben schränkten ihre weitere berufliche Entwicklung ein. Eine Zeit lang hielt sie sich mit verschiedenen Jobs über Wasser, mal in ­einer Fabrik, mal bei einem Maler oder in einem Schlachthof. 


Scham, Vermeidung, Rückzug

«Menschen, die nicht gut lesen, schreiben und rechnen können, sind meist in niederschwelligen Berufen tätig – und bleiben es oft ein Leben lang», erklärt Paula Klemt. Eine Weiterbildung zu besuchen, sei ihnen kaum möglich, ihr Potenzial bleibe unerkannt und ungenutzt. Sie macht ein Beispiel: «Jemand hat ein Händchen, um mit alten Menschen zu arbeiten. Trotzdem wird diese Person vielleicht keinen Pflegeberuf erlernen, weil dort administrative Arbeiten dazugehören.» Auch im sozialen Leben sind diese Menschen eingeschränkt. Nicht richtig lesen und schreiben zu können, erfülle Betroffene oft mit Scham, sagt Paula Klemt. Sie vermeiden häufig Situationen, in denen ihre Defizite zutage treten könnten, schreiben zum Beispiel keine E-Mails oder SMS. Die Angst, ertappt zu werden, kann zu sozialem Rückzug führen. Die digitalen Medien förderten dies noch, gibt Paula Klemt zu bedenken. Das habe der Corona-Lockdown aufgezeigt. Plötzlich musste man sich hier registrieren, dort einloggen und neue Technologien wie Zoom anwenden. «Das kann Menschen mit einer Leseschwäche und mangelnden digitalen Kenntnissen überfordern.»


Anstoss für eine Veränderung    

Janine H. hat mehrfach zu spüren bekommen, dass sie nichts könne, nichts wert sei. «Manche Leute bezeichneten mich als dumm. Das hat mein Selbstvertrauen angeschlagen.» Sie hatte zwar ein Handy, doch SMS oder Whatsapp schrieb sie keine. Das Internet getraute sie sich nicht zu nutzen. Als sie arbeitslos wurde, gelang die Vermeidungsstrategie nicht mehr. Sie meldete sich bei der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV) an. Schreiben trudelten ins Haus, Formulare waren auszufüllen, Bewerbungen zu schreiben. Janine H. war überfordert. «Auf dem RAV hatte niemand wirklich Zeit, mir zu helfen.» Sozusagen aus der Not heraus beschloss sie, sich selbständig zu machen. «Ich habe begonnen, vor allem für ältere Personen den Garten zu unterhalten, mit ihnen zum Einkaufen oder zum Arzt zu fahren. Diese Arbeit macht mich glücklich.» Für die Administration und die Finanzen suchte sie Unterstützung. Parallel dazu besuchte sie den ersten Kurs für Lesen und Schreiben. Ein guter Kollege habe sie dazu motiviert. Sie habe es sich lange überlegt, ob sie sich das mit 50 Jahren noch zutraue. Dann wagte sie den Schritt.  

«Meist braucht es einen Auslöser, damit sich Betroffene für einen Kurs anmelden», sagt Paula Klemt und nennt Beispiele: Nach einer Trennung fehlt plötzlich die Person, welche die Post und Finanzen erledigt hat. Die Kinder brauchen Hilfe bei den Hausaufgaben. Man verliert den Job und muss ein Bewerbungsdossier zusammenstellen.  

 

«Ich bin stärker geworden»

Janine H. geht gerne in den Kurs. «Jeder akzeptiert den andern, niemand lacht, wenn es mit dem Vorlesen nicht so gut klappt. Es gibt keine Tests, keine Noten, keinen Druck. Hausaufgaben darf man machen, muss aber nicht. Alle lernen im eigenen Tempo.» Die Berufsfrau hat Fortschritte gemacht. Heute nutzt sie das Internet und schreibt SMS. Sie liest kleine Büchlein, übt sich im Abschreiben und hört während der Gartenarbeit Hörbücher auf Youtube. Sie habe auf diese Weise schon viel gelernt, etwa wie die Politik in der Schweiz funktioniere oder wie die AHV entstanden sei. «Das alles hat mich selbstsicherer gemacht. Ich bin stärker geworden und weiss, was ich will. Ich lasse mir nicht mehr in mein Leben reinreden.» Mit ihrer Geschichte möchte sie andere motivieren, sich für einen Kurs anzumelden. Deshalb mache sie auch in der Botschaftergruppe von «einfach besser» mit. Eine Kursteilnehmerin habe es einmal so ausgedrückt: «Man muss kommen und es ausprobieren, um zu begreifen, dass sich wirklich etwas verändert!» 

«Besser jetzt» einen Kurs besuchen

Die nationale Kampagne «einfach besser» will Erwachsene, die Schwierigkeiten im Bereich Grundkompetenzen haben, zu einem Kursbesuch für Lesen, Schreiben, Rechnen oder Computer motivieren. In einer kleineren Gruppe lernen die Kursteilnehmenden alltagsbezogen und ohne Druck einen sicheren Umgang mit Lesen und Schreiben. Sie haben ein persönliches Ziel, zum Beispiel: sich die Grundlagen aneignen, um einen Beruf zu erlernen oder sich weiterzubilden, den Führerschein erlangen, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen oder einfach sich besser ausdrücken können.

Die Kurskosten werden von vielen Kantonen stark subventioniert. Der Kanton Bern übernimmt 80 Prozent der Kosten. Der Kanton Luzern gibt Bildungsgutscheine ab. Auf www.besser-jetzt.ch/kurssuche können Kurse nach Thema und Kanton ausgewählt werden. Weitere Informationen gibt es auch unter 0800 47 47 47.

16.09.2021 :: Silvia Wullschläger (sws)