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Paradiesische Zustände

Mein Menschenbild ist geprägt von der Auseinandersetzung mit religiös-philosophischen und säkularen Erzählungen. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch einen heiligen Kern hat. Dieser Kern ist seine Identität, sein Gewolltsein. Jeder Mensch hat diesen Wert, unabhängig von seinem Wesen und auch gänzlich unabhängig von seiner Leistung. Das Ziel menschlichen Lebens ist nicht Perfektion – das gilt für mich wie auch für meine Mitmenschen. Es ist nicht nur wichtig, dass ich die Bedürfnisse meines Gegenübers wahrnehme, sondern dass ich auch mir gegenüber aufmerksam und liebevoll bin. Im Hinblick auf Beziehungen, aber auch auf das Leben an sich hilft das Bewusstsein für die Prozesshaftigkeit: Es gibt schwere Stunden und leichte Phasen im Leben. Alles Schwierige, aber auch alles Schöne kommt schliesslich zu einem Ende. Die Tatsache der Endlichkeit fordert den Menschen immer wieder heraus – manchmal bereits lange vor dem tatsächlichen Tod. Und was dann? Alle Religionen kennen die Idee einer anderen Wirklichkeit. Aber es gibt kein gesichertes Wissen darüber, weder durch spirituelle Erfahrungen noch durch die Wissenschaft. Zentral scheint mir aber die menschliche Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen, nach Frieden und Harmonie, nach gegenseitigem Verstehen, nach Ganzheit. Manchmal blitzt dies auch auf: in den Armen eines Geliebten, im Erleben der Natur, in der Auseinandersetzung mit Kunst. Aber paradiesische Zustände in dieser Welt sind nicht umfassend zu haben. Wir scheitern immer wieder, als Kollektiv und als Individuen. In einer jesuanischen Abschiedsrede lese ich von diesem Dilemma: «In der Welt habt ihr Angst. Aber seid zuversichtlich, ich habe die Welt besiegt.» (Joh. 16, 33) Das was ist, ist oft viel, aber es muss nicht alles sein.

19.08.2021 :: Susanne Kühni (ksl)