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Frühlingserwachen

So ein Ende des Bergwinters ist eine langwierige Sache und zerrt zuweilen an den Nerven. Dass der Frühling vor der Tür steht, kündigt nicht nur die Sonne an, sondern ebenso das Blutvergiessen einer Schlacht. Jedes Jahr aufs Neue tritt David gegen Goliath an, aber hier gewinnt nicht der Schwächere. Nein, im Liebestaumel und von den ersten Sonnenstrahlen aus der Starre erwacht, nutzen manche Zäune und Gräben nichts. Sie versuchen trotzdem, die Strasse zu überqueren – oftmals Huckepack, als Paar, mitten in der Nacht. Ja, Kröten sind todes-mutig.

Mutig stürze auch ich mich ins Getümmel, fröne ausgelassen meiner Räumwut. Das hat nichts mit Ärger zu tun, es ist freigesetzte Energie, in der Hoffnung, Ende April den Frühling mit allen Tricks anzulocken. Die Ärmel hochgekrempelt geht es los. Der winterliche Staub muss weg. Mit Volldampf putze ich die Fensterscheiben, bis mir die Sicht auf die Dinge neue Impulse verleiht. Danach ist der Kleiderschrank an der Reihe. Alles muss raus. Kleider, deren Verlust ich frühestens in zehn Jahren bereuen werde, fliegen. Weiter gehts ins Büro. Hier stapeln sich Hochglanzmagazine mit Tipps und Tricks für die Frau sowie leckeren Rezepten auf dem unteren Regal und welken vor sich hin. Jetzt wandern sie zum Altpapier, zusammen mit vergilbten Zeitungsausschnitten – die gesammelten Ungelesenen. Dafür tauchen aus den Tiefen des Sekretärs Steuerunterlagen auf, die sich gut versteckt haben. Frühling halt. Der Winterschlaf scheint überwunden. Mit dem Besen bewaffnet, gehe ich auf den Balkon. Nachher möchte ich hier meinen Akku wieder aufladen. Die Sonne kitzelt meine Nase und mein Blick schweift über die Brüstung hinweg in den Garten. Die Kübel mit erfrorenen Blumen und Kräutern sollte ich leeren. Die Farbe Braun beherrscht die Szene, vor allem im Staudenbeet, wo die Pflanzen nur noch als Kompost erkennbar sind. Bevor da das erste zarte Grün kommen kann, sollte ich die Reste abschneiden. Hier und da blinkt ein Farbtupfer. Krokusse oder erste Schlüsselblumen zeigen sich. Das grüne Sackleinen, den ich als Frostschutz über Sträucher gestülpt hatte, weht trotz Schleifenband etwas zerzaust im Wind. Es erinnert mich an den Anblick meines Körpers kürzlich in der neonbeleuchteten Umkleidekabine eines Kaufhauses. Erdanziehung. Bei dieser Erinnerung schleicht sich die Frühjahrsmüdigkeit an, aber ich lasse es nicht zu. Ein Blick auf die Hände verrät, ein grüner Daumen sitzt da nicht. Also beschliesse ich, als Samariter, den Kröten über die Strasse zu helfen.

29.04.2021 :: Martina Jud