Verdingt – und dann in die Legion

Verdingt – und dann in die  Legion
Ein Fremdenlegionär 1954 unterwegs in Indochina. Auch Albrecht Ramseier war dort mehrere Jahre im Einsatz – und überlebte, obwohl die Légion étrangère in keinem anderen Krieg je mehr Tote zu zählen hatte. / Bild: zvg
Emmental: Eine gewaltvolle Kindheit und kaum Aussichten auf Besserung. Nicht wenige Verdingbuben versuchten als junge Männer in der Fremdenlegion Frankreichs einen ­Neuanfang.

«Am 24. Décembre 1952 habe ich mich dann bei der Légion Etrangère verpflichtet, für fünf Jahre», schrieb Albrecht Ramseier* in einem Brief an einen Bekannten. Der damals 25-Jährige mit Wurzeln in Eggiwil war kurzfristig aufgebrochen. Eine Beziehung zu einer jungen Frau war in die Brüche gegangen; er arbeitete mal hier, mal dort, kam aber auf keinen grünen Zweig. Gleichzeitig wuchsen die Schulden. Bis Ende 1952 musste er mehrere hundert Franken abstottern. Ramseier erkannte, dass die 2.15 Franken Stundenlohn, die er als Hilfsarbeiter auf der Grimsel verdiente, nie und nimmer reichen werden. Auch wurde er kurz zuvor wegen Veruntreuung verurteilt. «Ich wollte nicht, dass ich in jeder Zeitung ausgeschrieben bin und mich alle Leute auslachen», steht in einem Brief, der in den Akten des Militärgerichts zu finden ist. Was tun? Nach und nach sei in ihm der Entschluss gereift, «dass ich in die Légion gehe und mich für fünf Jahre unsichtbar mache». 

Sind das wirklich meine Eltern?

Albrecht war das zweite von acht Kindern eines Arbeiterehepaars. Als er 18 Monate alt war wurde er bei Pflegeeltern untergebracht.» Er bliebt dort bis zu seinem 9. Altersjahr, musste dann diesen Pflegeplatz verlassen, weil er mit andern Kindern eine Scheune in Brand gesteckt haben soll. Er wurde an einen anderen Ort verdingt. Es lief nicht gut; der Bursche wurde als arbeitsscheu beschrieben, steht in den Akten. 

Mit elf Jahren hiess es plötzlich: Nach Hause! «Bis dahin hatte ich meine Eltern noch nie gesehen», ist in einem Brief zu lesen. Ramseier fügte an, dass er heute noch nicht sicher sei, dass es sich wirklich um seine leiblichen Eltern gehandelt habe, «aber das ist etwas ganz Nebensächliches». Der Vater sei ein Trunkebold gewesen, der die Kinder immer wieder geschlagen habe. Wie viele der acht Kinder bei den Eltern aufgewachsen sind, geht aus den Akten nicht hervor. Mit einem Wochenplatz musste der Jugendliche der Familie helfen, über die Runden zu kommen. In der Schule hatte Albrecht schlechte Noten. Wegen Gehilfenschaft bei einem Diebstahl hatte er sich vor Jugendgericht zu verantworten, erhielt aber keine Strafe. Auch als er als Hilfsmonteur tätig war, musste er, gemäss seinen Angaben, einen Grossteil seines Lohnes den Eltern abgeben. Der Wunsch, eine Kochlehre machen zu können, wird ihm vom Vater, der selber in diesem Beruf tätig war, «abgeschlagen». Koch wurde Ramseier dann in der Rekrutenschule, er machte sogar weiter zum Küchenchef. 1954 rapportierte sein Kommandant an das Militärgericht: «Er war ein ausgezeichneter Küchenchef. (…) Plötzlich war er verschwunden. (…) Ich musste daher für Ersatz besorgt sein.» 

In der Schlacht von Dien Bien Phu 

1954 hatte Albrecht Ramseier seine Ausbildung zum Fremdenlegionär längst hinter sich und stand in Indochina im Einsatz. Die Kolonialmacht Frankreich kämpfte dort seit 1946 gegen die kommunistischen Viet Minh. Ramseier, der offenbar im Bataillonsbüro seinen Dienst tat, beschreibt in einem Brief auch die Schlacht von Dien Bien Phu, welche für Frankreich in einem Fiasko endete: Sie hätten sich mehr und mehr zurückgezogen, seien nun aber an einem Platz angelangt, wo sie ihre Dossiers der 652 gefangenen und 179 gefallenen Kameraden bearbeiten könnten. «Es hat unser Bataillon sehr viel an Soldaten gekostet die letzten zwei Monate.» Frankreichs Fremdenlegion erlitt in keinem anderen Krieg mehr Verluste als in Indochina. Bezugnehmend auf die Schlacht von Dien Bien Phu hielt Ramseier fest: «Wir von der Schweizerkolonie in unserem Bataillon haben im ganzen 83 Mann dort droben gelassen und ich bin sicher, dass in den anderen Regimentern auch sehr viele Leute aus der Schweiz waren.» Ramseier hatte offenbar Glück. Zwar berichtete er in einem Brief, dass er neun Rippen gebrochen habe – aber er kommt mit dem Leben davon. Nachdem der Krieg in Indochina verloren war, wurde Ramseiers Bataillon umgehend nach Algerien verschoben, wo im Herbst 1954 ein Krieg entbrannte. 

Er verpflichtet sich weiter 

Das Schweizer Militärgericht verurteilte den mittlerweile 27-jährigen Mann in Abwesenheit zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe: Wegen Eintritts in einen fremden Militärdienst, aber auch, weil er WK’s nicht leistete und ein Teil seiner militärischen Ausrüstung, welche eingezogen wurde, nicht auffindbar war. «Ausrüstungsgegenstände im Werte von Fr. 53.15 fehlten», steht im Urteil vom Juli 1954. Aus einem weiteren Urteil aus dem Jahr 1959 geht hervor, dass Ramseier nach den fünf Jahren – zu denen sich jeder Legionäre zunächst verpflichten muss – für weitere zwei oder drei Jahre blieb. Sein Vater gibt in einer Einvernahme zu Protokoll, dass er aus Briefen wisse, dass sein Sohn seit schätzungsweise drei Jahren verheiratet und Vater eines Kindes sei. «Die Frau ist mit ihren Eltern in Madagaskar. Es scheint sich um eine ehemalige Kolonistenfamilie aus Algerien zu handeln.» Der Vater hatte weiter die Vermutung, dass sein Sohn am Ende seiner Zeit in der Fremdenlegion kaum in die Schweiz zurückkehren werde. Er gehe auch davon aus, dass Albrecht die französische Staatsbürgerschaft angenommen habe. 

Diesen Umstand interessierte nun wieder die Schweizer Militärbehörden. Als Doppelbürger hätte Ramseier für einen Teil seiner Versäumnisse nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Sogar die Botschaft in Paris wurde engagiert, um nachzuforschen. Die Légion étrangère gab keine Auskunft, aber die staatliche Verwaltung. Sie teilte mit: Der Mann «été naturalisé Français par décret du 27. novembre 1961» – er war also Doppelbürger. 

Warum meldete er sich nicht mehr?

Nun verliert sich Albrecht Ramseiers Spur mehr und mehr. Die Angaben im mittlerweile dritten Urteil des Militärgerichts sind teilweise widersprüchlich. Ziemlich sicher hatte er sich 1960 zu einer dritten Dienstzeit in der Fremdenlegion verpflichtet. Seine Eltern haben ihm sporadisch weiterhin Briefe gesandt – aber keine Anworten mehr erhalten. 1963 besuchte ein Deutscher, der seinen Dienst als Fremdenlegionär quittiert hatte, Albrechts Eltern. Dieser teilte ihnen mit, dass ihr Sohn Anfang 1962 ebenfalls aus der Légion étrangère ausgetreten sei. Die Eltern wurden aus den Aussagen des Deutschen aber nicht recht schlau. War er noch bei den Franzosen? War er – wie hunderte andere Legionäre – zur algerischen Armee übergelaufen? Weilte er bei seiner Frau in Madagaskar? Die Version, dass er sich noch in Algerien aufhalte, «hat einiges für sich», folgerte der zuständige Untersuchungsrichter der Militärjustiz. Dies unter anderem, weil sich die französischen Behörden im Zusammenhang mit Sozialversicherungen bei den Eltern gemeldet haben. 

Die Spuren von Albrecht Ramseier versanden in der algerischen Wüste. In einem früheren Brief nimmt er Bezug auf die Zeit nach der Fremdenlegion: «Ich weiss heute, warum sehr selten einer freiwillig in die Heimat zurückkehrt, denn sie finden sich nicht mehr zurecht im Zivilen.»


*Aus Persönlichkeitsschutzgründen ist nicht der richtige Name zu lesen. Gemäss dem Zivilstandsamt Emmental gilt der Mann nicht als verschollen. Dies, weil von den Angehörigen nie ein entsprechendes Gesuch eingereicht worden ist. 


Laut Walter Zwahlen, Präsident des Vereins www.netzwerk-verdingt.ch, sind hunderte Verdingbuben als junge Männer in die Fremdenlegion eingetreten. Er hat einige besucht. 


Vielen Dank an Peter Huber, Dozent für Geschichte an der Uni Basel, der die drei Urteile des Militärgerichts für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat. Er ist Autor des Buches: «Fluchtpunkt Fremdenlegion – Schweizer im Indochina- und im Algerienkrieg 1945–1962», Chronos Verlag, 2017.

28.01.2021 :: Bruno Zürcher (zue)