Ein Müntschi für Mutscheln

In die Zukunft zu schauen, ist im Moment nicht einfach. Ich komme mir vor, als würde ich an einer geschlossenen Bahnschranke warten, dass der Zug endlich vorbeifahre. Immer öfter schaue ich zurück, weil kein Vorwärts möglich ist. Am Sonntag latschte ich mit meinem Partner den Signau–Schüpbach-Weg über die Felder und bemerkte: «Weisst du noch, als wir noch nie einen Winterspaziergang gemacht hatten und durchgefroren in
einer Beiz ein heisses Getränk hätten schlürfen können?» Ach, wäre das schön gewesen.

Spazieren gegangen sind wir tatsächlich fast nie, weil wir ständig mit wehendem Haar von einem Termin zum nächsten hechteten. Seit der Pandemie mit Home-Office nehmen wir uns jeden Tag vor, eine halbe Stunde zu laufen – oft schaffen wir das und versichern uns jedes Mal, wie gut das getan hat. Dabei finden wir sinnloses Rumgelaufe eher öde. Wir können ja nicht mal ein heisses Getränk und so ...

In Ermangelung von Aufträgen bin ich quasi mit meinem Freund Broti zusammengewachsen. Aufmerksame Lesende kennen den Brotbackautomaten schon. Er kann weit mehr als seine Bezeichnung verspricht. Er knetet alles – von Marzipan bis Konfitüre, zum Beispiel auch Hefeteig. Das erinnert mich an meine Zeit in der Stadt Reutlingen. Schwäbischer geht’s nimmer: Broti und ich fertigten zum ersten Mal Laugenbrezeln. Ich kaufte mir einen grösseren Vorrat Natron für Wiederholungen. 

Meine in Reutlingen geborenen Töchtern reagierten auf ein Foto meiner Brezelpracht: «Mama, dann kannst du auch Mutscheln!» Hübsches Wort, gell? Verdient glatt ein Müntschi. Traditionell wird am ersten Donnerstag nach Dreikönig in Reutlingen der Mutscheltag begangen – genau wenn diese Kolumne erscheint! In allen Bäckereien sind verzierte Hefegebäcke erhältlich, um die bei Spielen wie «Nackete Luise» oder «Langer Entenschiss» gewürfelt wird. Die Mutschel ist sternförmig mit acht Zacken aufgebaut. In der Mitte erinnert eine Erhöhung an den Hausberg der Stadt, umgeben von einem geflochtenen Kranz. Auf jeder Zacke, die vermutlich für eine Zunft steht, befinden sich Symbole der Gewerke wie Brezeln oder Spiralen. Je grösser eine Mutschel – das können gut mal 40 Zentimeter sein – desto reichhaltiger die Verzierung. 

Die Mutscheln sind herrlich gelungen. Der WhatsApp-Applaus meiner Töchter machte mich glücklich. Mein Blick zurück hat sich in einen Blick nach vorne verwandelt. Plane mit den Töchtern ein Treffen in Reutlingen nach dem Pandemie-Spuk. Hoffentlich nicht erst am Mutscheltag 2022.

14.01.2021 :: Christina Burghagen (cbs)