Der kopflose Josef

Als Josefs Kopf unter die Kommode rollte, endete der Kampf abrupt. Dabei war es bis zu diesem Punkt ein wirklich guter Kampf gewesen. Ich hatte meistens die Oberhand, war ja auch älter und damals noch stärker als mein kleiner Bruder. Inspiriert von den Wrestling-Matches, die wir vom Sportkanal kannten, grölten wir die Namen unserer Helden: Hulk Hogan, Bret «Hit-Man» Hart, Bam Bam Bigelow. Wir ahmten das Gebaren der muskelbepackten Show-Kämpfer in ihren Spandex-Dresschen nach. Und wir kämpften. Die Stube war unser Kampfring. Ich hatte meinen Bruder auf den Boden gezwungen und hielt ihn im Schwitzkasten. Er war chancenlos. Eigentlich hätte er sich ergeben müssen. Stattdessen versuchte er, sich zappelnd aus meinem Griff zu lösen. Ein wilder Befreiungstritt traf die Kommode.

Oben auf der Kommode stand die heilige Familie. Mutters Krippenspiel. Einmal im Jahr machte sich Vater, der sonst kaum freiwillig einen Laden betrat, auf nach Langnau und kaufte dort eine neue, geschnitzte Holzfigur, die er Mutter dann zu Weihnachten schenkte. So war die heilige Familie über die Jahre immer zahlreicher geworden. Liebevoll arrangierte Mutter stets zur Adventszeit Maria, Josef und das Jesulein und ringsherum die ganze Entourage an Schafen, Hirten, Königen und Kamelen.

Die Erschütterung liess nun die Figürchen wild durcheinander purzeln. Auch der gute Josef, der auf seinen Stab gestützt mit verklärten Zügen das Christkindchen in der Krippe bestaunte, auch dieser standhafte Lindenholzmann geriet ins Wanken. Er verlor sein Gleichgewicht und stürzte über die Kommodenkante in den Abgrund. Im Fallen drehte er sich und landete so unglücklich auf der Schläfe, dass sein Hals mit verhängnisvollem Knacken brach.

Wir hatten den heiligen Vater geköpft. Augenblicklich schmolz sich das schlechte Gewissen als glühender Klumpen vom Scheitel ausgehend seinen Weg durch mich hindurch, riss unterwegs Herz und Gedärme mit sich, fiel durch meine Hose auf den Stubenboden, wo es ein Loch durchs Parkett brannte und schlussendlich im Keller landete, zwischen den Regalen mit dem Eingemachten. 

Was würde Mutter sagen? Was würde Vater sagen? Was sollten wir tun?

Wir lösten das Problem mit Bastelleim.

Zur Adventszeit muss ich seither immer an Wrestling denken. Advent und Masken gehören für mich seit Langem zusammen. Und jedes Jahr, wenn Mutter ihre Krippenfigürchen aufgestellt hat, muss ich Josefs Hals ansehen mit der haarfeinen Klebestelle. Wenn man nicht weiss, dass sie da ist, achtet man sie kaum.

03.12.2020 :: Peter Heiniger