Unterströmungen

«Muesch eifach la gah, eifach la gah. Wed jetz muesch bisle, muesch eifach la gah», spricht der Vater zu seinem Kind. Er steht bis zum Bauch im seichten Uferwasser. Vor ihm dümpelt, von Schwimmflügeln getragen, sein Kind. In der Nähe zirpt ein Insekt im Schilf. Eine Entenfamilie paddelt vorüber. Schweiss, Sonnencrème, und Grillrauch hängen in der Luft. Das Gekreische plantschender Kinder bildet den akustischen Teppich. Das Wasser ist warm, beinahe suppig. Es ist ein schwüler Sommertag an einem See im Welschland.

«Jetz chasch ja bisle, muesch eifach la gah.» Sagt der Mann nochmal und blickt von seinem Kinde hoch. Erst jetzt nimmt er mich wahr. Dabei bade ich nur etwa zwei Meter entfernt.
Unsere Blicke kreuzen sich für einen Moment. In diesem kurzen Augenblick kann ich erstaunlich viel im Gesicht des Mannes lesen, fast wie in
einem offenen Buch. Vielleicht steckt ja ein kleiner Uri Geller in mir, wer weiss. Jedenfalls ist es ihm zuallererst peinlich. Obwohl, eigentlich ist ja nichts dabei. Schliesslich tun es alle. Fische, Enten,  Schwäne, Biber und garantiert auch ein guter Teil der Badegäste verrichten ihre Notdurft im Gewässer. Wer in einem See badet, tut dies im Wissen, dass er seinen Körper keineswegs in reinstes Quellwasser tunkt. Normal. Aber dem Mann wird gerade schlagartig bewusst, dass er sein Kind laut und deutlich dazu aufgefordert hat, unmittelbar neben einem Fremden – also mir – ins Wasser zu pieseln, das treibt ihm die Schamesröte ins Gesicht. Im nächsten
Moment keimt in ihm die Hoffnung, dass ich ihn gar nicht verstanden habe. Gut möglich, ich könnte ja ein Welscher sein oder ein holländischer Tourist. Gleich darauf mischt sich da noch etwas in seinen Blick, etwas Garstiges. Als würde er denken: «Wenn das ein Welscher ist oder ein Holländer, dann ist es ja auch nicht so schlimm.» 

Ich erwidere den Blick, ruhig und freundlich, aber so, dass er erkennt, ich bin kein Welscher und auch kein holländischer Tourist und ich habe jedes einzelne Wort verstanden. Der Mann wirkt irritiert. Und langsam dämmert in ihm eine Vermutung,
womit dieser Fremde – also ich – da im Wasser gerade beschäftigt gewesen sein könnte, bevor er mit seinem Kind in meine Nähe gekommen ist. Vielleicht steckt ja ein kleiner Uri Geller in jedem von uns. Ich schenke ihm ein komplizenhaftes Lächeln. Dann wende ich mich ab und schwimme auf den lauwarmen See hinaus.

Das ist das Schöne in den Ferien. Manchmal darf man sich einfach
gehen lassen, wenn man kann.

13.08.2020 :: Peter Heiniger