Neues Leben dank «Unordnung»

Neues Leben dank «Unordnung»
Natürlicher Ablauf im Waldreservat Vorderarni: Indem alte Bäume absterben und schliesslich umfallen, schaffen sie neues Leben. / Bild: Walter Marti (mwl)
Wasen: Vor 20 Jahren führte der Sturm Lothar zu verheerenden Waldschäden. Im danach ausgeschiedenen Waldreservat Vorderarni hat sich die Natur seither vielseitig entwickelt.

In der Altjahrswoche 1999 wütete der Sturm Lothar und zerstörte auch im Emmental zahlreiche Wälder. Der Bund lancierte ein Projekt «Lothar-Waldreservate» und förderte diese mit namhaften Beiträgen. Auch im Emmental kamen trotz meist kleinparzelliertem Privatwald sechs Reservate zustande (siehe Kasten). Das Waldreservat Vorderarni im Wyttenbachgraben umfasst 6,06 Hektaren. Der Wald gehört dem Kanton Bern und ein Teil der Burgergemeinde Sumiswald. Ziel ist es, mindestens während der Vertragsdauer von 50 Jahren die natürliche Entwicklung ungestört ablaufen zu lassen und die Biodiversität zu fördern.

Viel Licht und Totholz

Martin Leuenberger, langjähriger Präsident des Natur- und Vogelschutzvereins Wasen, hat das Waldreservat Vorderarni besucht und erfreuliche Entwicklungen festgestellt. «Eine artenreiche Fauna und Flora kann nur entstehen, wenn genügend Licht und Nahrung vorhanden sind. Blössen und Totholz bieten diesbezüglich ausgezeichnete Voraussetzungen», hält er einleitend fest. Er weist auf die buntgemischte Kraut- und Strauchschicht sowie Pionierbaumarten wie Birken und Vogelbeeren hin und betont, dass deren Früchte und Samen für die Vogelwelt wichtig seien. Eine besondere Bedeutung sieht er im Totholz. Stehende und liegende abgestorbene Bäume und Baumstrünke würden als wertvolle Nahrungsgrundlage für Tiere und Pflanzen dienen, sagt der erfahrene Natur- und Vogelschützer. «Die durch den Sturm Lothar örtlich geschaffene ‹Unordnung› führt zu mehr Biodiversität und bietet Tieren auch Schutz und Rückzugsmöglichkeiten.»

Kleiner Vogel mit königlicher Stimme

Laut Martin Leuenberger haben sich im Reservat zahlreiche Vogelarten niedergelassen und entwickeln können. Für den Laien unsichtbar weist er auf ein kleines Loch in einem umgekippten Wurzelstock hin. «Hier hat sich der Zaunkönig ein Nest gebaut. Er ist der zweitkleinste Vogel, hat aber eine der lautesten Stimmen», erklärt Martin Leuenberger und lacht. An einem stehenden dürren Baumstrunk voller Spechthöhlen haben sich Insekten eingenistet. Bei deren Winterstarre hätte der Schwarzspecht mit seinem kräftigen Schnabel diese herausgepickt und so die runden Löcher zu langen vertikalen Kerben im Holz umgeformt. Andere Spechthöhlen würden durch den Kleiber quasi als Nachmieter bis auf ein kleines, ihm passendes Loch zugemauert. 

«Tactac» – «Hörst du das Rotkehlchen? Das warnt vor unserem Besuch.» Der Reservatbesucher und Vogelspezialist ist sichtbar im Element ob der vielen Vogelstimmen, die ihn immer wieder zu Unterbrechungen seiner Erläuterungen zwingen. Waldbaumläufer, Buchfink, Zilpzalp, Wintergoldhähnchen, Mönchsgrasmücke, Hauben- und Tannenmeise sowie Bunt- und Schwarzspecht hätten sich im Reservat Vorderarni prächtig entwickelt, sagt Martin Leuenberger.

Paradies für Pilze und Insekten

Beim Entfernen der faulen Holzteile im Aussenbereich der liegenden Totholzstämme kommen etliche Würmer, Larven und Pilze zum Vorschein. Sie alle wirken an der Zersetzung des Holzes und der Schaffung von Humus mit. Auch Säugetiere wie die Waldmaus oder der Siebenschläfer seien dank vieler Deckungsmöglichkeiten wieder vermehrt zu sehen, trotz zunehmender Beutegreifer wie Milan und Mäusebussard. Ein junger, aufgeschreckter Hase hoppelt eiligst davon. Alpensalamander, Grasfrösche und Erdkröten finden im Reservat ihr Sommerquartier. 

Für Martin Leuenberger stellt das Lothar-Waldreservat ein echtes Paradies dar. «Mit zunehmender Bewaldung werden Licht und das Nahrungsangebot abnehmen und die Vielfalt von Tieren und Pflanzen auch», folgert er und fügt an, dass es im Wald deshalb unbedingt immer wieder neues Totholz und Oasen mit viel Licht brauche, «geschaffen nicht unbedingt durch einen Sturm, sondern durch die Waldbewirtschaftung.» Eine nachhaltige Waldwirtschaft könne durchaus im Einklang mit einer nachhaltigen Aufrechterhaltung einer hohen Biodiversität stehen, sagt der Naturbeobachter und -kenner zum Schluss. 

Die im Lothar-Waldreservat Vorderarni gemachten Beobachtungen decken sich mit Erkenntnissen, die die eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft bei vergleichbaren Projekten auf nationaler Ebene gewonnen hat.

Lothar-Reservate

Dem Sturm Lothar vom 26. Dezember 1999 fielen in der Schweiz auf 46’000 Hektaren rund zehn Millionen Bäume zum Opfer. Zwölf Kantone konnten mit Waldbesitzern insgesamt knapp 2000 Hektaren Sturmflächen vertraglich als Reservate ausscheiden und für 50 Jahre ohne Eingriffe sichern. Die Waldbesitzer wurden vom Bund mit durchschnittlich 2200 Franken pro Hektare für das liegengelassene Sturmholz und künftige Ertragsausfälle entschädigt. Im privatwaldreichen Emmental konnten in den Gemeinden Eggiwil, Langnau, Sumiswald (zwei), Trub und Walkringen sechs Reservate mit einer Fläche von insgesamt 32,44 Hektaren eingerichtet werden. 

02.07.2020 :: Walter Marti (mwl)