Freiheit, Freiheit über alles!

Bedrohte Freiheit, Beschneidung der Grundrechte, totale Überwachung – würde man die unzähligen Beiträge und Kommentare in den sozialen Medien ernst nehmen, müsste man sich bereits in einer Diktatur mit einer
gefährlichen Geheimpolizei wähnen. 

Ein Blick auf die sprachlichen und argumentativen Fähigkeiten der meisten dieser Schreiber scheint allerdings zu bestätigen, dass wir eher die Diktatur der Dummheit zu befürchten haben. 

Und ich gebe es lieber auch gleich zu, bevor mich dieser mysteriöse Geheimdienst, der angeblich überall lauert und mich mit 5G-Technologie überwacht, entlarvt: Auch ich gehörte einst zu den Dummen, also zu den Mitläufern, welche, ohne genau zu wissen worum es geht, bei Demonstrationen mitgegangen sind. Tempi passati (hoffentlich).

Der Freiheitsgedanke ist ja quasi ein Gen des Schweizers. Noch heute ist Wilhelm Tell für viele DER Freiheitsheld, obwohl es ihn in Wahrheit gar nie gab. Und hätte er tatsächlich je gelebt und der Sage entsprechend den tödlichen Schuss auf den überforderten Landvogt Gessler abgegeben, so hätte er den Tyrannenmord nicht zur Befreiung des Schweizervolks begangen, sondern lediglich aus verletztem Stolz, weil Gessler ihn gedemütigt hatte. Die Volksbefreiung war nie seine Idee, nie sein Ziel.

Seit jener Zeit hat der Freiheitsgedanke teilweise seltsame Blüten getrieben. Schier in jedes Schweizers Gedankengarten wächst eine eigene und vielfach recht unsympathische Sonderzucht der Freiheitsblume. Jedem und jeder seine eigene Tellerei oder Tollerei nach dem Motto: Hoppla, jetzt komme ich – ich bin, ich will und du sei still!

Ein paar Beispiele gefällig?

Freiheit ist, wenn man die rasante Fahrradbolzerei ungeniert auf Trottoirs verlegt und dabei in Kauf nimmt, dass Rentner, wenn nicht grad überfahren, so doch zu Tode erschreckt werden (was u. U. auf das Gleiche rauskommt). Freiheit ist, wenn man seinen Hund frei und unbeaufsichtigt auf Weiden herumspazieren lässt und dabei in Kauf nimmt, dass er (der Hund) mit seinem Kot Kühe krank macht.

Freiheit ist, wenn man an schönen Sommerabenden halbe Bierbrauereien und Schlachthöfe zu öffentlichen Grillstellen schleppt und nach üppigem Gelage eine Müllhalde zurücklässt.

Freiheit ist, wenn man in Zeiten von Corona die Empfehlungen und Vorschriften der Behörden missachtet und dabei in Kauf nimmt, dass sich das Virus wieder ausbreitet.

Die Aufzählung ist gewiss nicht vollständig, aber unter dem Strich bleibt die Erkenntnis:

Freiheit ist für viele gleichbedeutend mit Egoismus und Rücksichtslosigkeit.

Schade.

20.05.2020 :: Peter Leu