Lektion in Mauerbau

Und plötzlich hat man Zeit für Zeug, das man zuhause längstens hätte
machen wollen. Oberhalb unseres Hauses liegt ein Haufen grosser Feldsteine, von Brennnesseln und Huflattich umflort. Nicht aus den Augen, nicht aus dem Sinn, aber doch wenigstens aus dem Weg. Schon lange warten die Chempen darauf, für etwas zu gebrauchen zu sein. Ein Stützmäuerchen soll es werden für eine leicht erhöhte Gartenecke. Da man einerseits gerade nicht so einfach zu Zement kommt und da es andererseits für die Eidechsen und Blindschleichen ein willkommenes Versteck sei, ist ein Trockensteinmäuerchen vorgesehen. Kann ja nicht so schwer sein. Ruckzuck finde ich im Internet ein Lernvideo: «In fünf einfachen Schritten zur selbstgebauten Trockensteinmauer – Rustikaler Charme für Ihren Garten», verspricht Toni, der braun gegerbte Landschaftsgärtner mit strahlendem Lächeln. Fünfzehn Minuten später weiss ich, wie’s geht und mache mich wacker ans Werk. Nachdem ich die ersten paar Zentimeter Erde weggeschaufelt habe, schwinge ich die Spitzhacke. Wieder und wieder lasse ich sie niedersausen. Der Effekt ist minimal. Bei Toni sah das einfacher aus. Leider lässt meine Kondition zu wünschen übrig, zudem steht unser Haus auf elend zähem Mergel. Nach jedem zehnten Streich muss ich verschnaufen. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe mir den kondensstreifenfreien Himmel an. In dieser Haltung wird mir rasch schwindelig und ich riskiere Nackenstarre. Also, Blick wieder geradeaus und weiter  im Takt. Nachdem ich einen Graben fürs Fundament ausgehoben habe, fülle ich ihn zur Hälfte mit Kies und Sand, genau so, wie das der Toni im Tutorial erklärt hat. Dann setze ich die grössten Steine, hinterfülle den Hohlraum dahinter und setze eine zweite Lage mit etwas kleineren Steinen. Wobei, Lage kann man dem schon jetzt nicht mehr sagen. Toni hat gut Lachen mit seinen schönen, flachen Tessiner Gneissplatten. Ich versuche mir einzureden, mein Mäuerchen versprühe rustikalen Charme. Vergeblich. Als ich auf Höhe von achtzig Zentimetern die Hinterfüllung verdichten will, macht mein Trockenmäuerchen holterdipolter und ist wieder ein Steinhaufen. Die ganze Mühe für die Katz. Respektive für die Eidechsen, die sind bestimmt nicht heikel, was die Architektur betrifft. Wenigstens weiss ich jetzt, warum sich der Trockenmauerbau im Emmental nie wirklich hat durchsetzen können. Für den Fall, dass jemand fragt: Es war von Anfang an der Plan, die Steine nur umzuplatzieren.

23.04.2020 :: Peter Heiniger