«Als Gegengewicht zur Krise sind nun Solidarität und Kreativität gefragt»

«Als Gegengewicht zur Krise sind nun Solidarität und Kreativität gefragt»
Lebenshilfe: Innerhalb weniger Tage hat das Coronavirus unser aller Leben tiefgreifend verändert. Das löst bei vielen Menschen Verunsicherung und ängste aus. Wie damit umgehen?

«Nein, Angst um mich habe ich nicht, obwohl ich zur Risikogruppe gehöre», sagt der 71-jährige Felix Branger auf die entsprechende Frage. Er halte die Vorschriften des Bundes ein, sowohl privat als auch in seiner Praxis in Aeschau, Eggiwil, betont der Psychotherapeut und Pfarrer. Mit menschlichen ängsten und den Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, setzt er sich seit Jahren auseinander.



Herr Branger, jede und jeder spürt die Auswirkungen des Coronavirus beziehungsweise der Massnahmen des Bundesrats. Das Leben hat sich innerhalb weniger Wochen komplett verändert. Was geschieht gerade?

Ich benutze dazu das Bild eines Kreuzes. Stellen wir uns vor, der Querbalken ist nur mit einem Nagel in der Mitte befestigt. Er kann sich wie eine Waage auf und ab bewegen. Auf der einen Seite ist das Leben oder die Gesundheit, auf der anderen der Tod oder die Krankheit. Zu unserem Leben gehören beide Pole, aber in den letzten Jahrzehnten wurde in unserer Gesellschaft nur die positive Seite gewichtet und die negative ausgeblendet. Der Wohlstand, das Durchschnittsalter stiegen kontinuierlich an.



Und nun, so klein das Coronavirus auch ist, verleiht es der negativen Seite wieder mehr Gewicht.

Ja, es findet sozusagen ein Korrektiv statt. Krankheit und Tod sind plötzlich allgegenwärtig. Wir werden mit der Realität konfrontiert, dass das Leben und auch der Wohlstand begrenzt sind. Wir erleben die Schattenseite der Globalisierung, erkennen zum Beispiel die enorme wirtschaftliche Abhängigkeit von China. Als Gesellschaft haben wir es verlernt, mit den negativen Seiten des Lebens, mit Krisen umzugehen.



Nun ist sie da, die Krise. Und sie löst Angst und Unsicherheit aus. Was macht das mit den Menschen?

Manche Menschen tauchen aus Angst ab, sie lassen sich fallen und ziehen sich komplett zurück. Sie resignieren. Andere wiederum steigern sich richtiggehend hinein und schaukeln die Angst hoch bis zur Hysterie. Das führt dann etwa zu Hamsterkäufen.



Was sind bessere Möglichkeiten,
damit umzugehen?

Ich konfrontiere die Leute jeweils mit der Realität. Ganz konkret auf das Coronavirus bezogen: Wie gross ist das Risiko tatsächlich, mich anzustecken, wenn ich die Hygiene- und Abstandsvorschriften des Bundes einhalte? Wo könnte ich mich überhaupt anstecken? Kann ich mit Hamsterkäufen wirklich drei, vier Monate überleben? Oder glaube ich dem Bundesrat, dass unsere Versorgung gewährleistet ist? Es geht darum, die oft irrationale Angst zu reduzieren auf ihre reale Grösse.



Eine Einordnung ist aber schwierig, weil wir keine Gewissheit haben, was uns noch erwartet, wie lange es dauert. Wir haben es nicht im Griff.

Es ist eben eine Realität, dass unsere Möglichkeiten beschränkt sind. Ich komme zurück auf das Bild vom Kreuz. Der senkrechte Balken stellt die Beziehung dar zwischen Gott und dem Menschen. Wenn ich einen Bezug zu Gott habe, kann ich mein Erleben vor einen neuen Hintergrund stellen, den Hintergrund der Ewigkeit. Es ist wie bei diesen Bildern, auf denen man je nach Betrachtungsweise eine alte oder eine junge Frau sieht. Wenn ich meinen Blick nur auf das Virus fixiere, klammere ich einen Teil des Bildes aus. Beziehe ich aber auch die göttliche Dimension ein, erhält das Bild ein anderes Gesicht. Das gegenwärtige Leiden wird ein Stück weit relativiert. Es geht zwar nicht weg, aber es ist nicht endgültig.



Trotzdem gilt es, die jetzige Situation ganz praktisch auszuhalten. Soziale Distanz und Rückzug in die eigenen vier Wände sind das Gebot der Stunde.

Da sind, wiederum als Gegengewicht, Solidarität und Kreativität gefragt. Kontakte können auch per Telefon oder Skype gepflegt oder wiederbelebt werden. Junge Menschen bieten älteren Hilfe an und ich ermutige dazu, diese anzunehmen. Es gibt Aktionen wie gemeinsames Singen und Musizieren auf dem Balkon. Man kann Schach spielen per Telefon oder online eine Fremdsprache lernen. Wichtig ist auch, dass man weiterhin den ganz normalen Tagesrhythmus aufrechterhält. Das gibt Sicherheit.



Und den Fernseher, das Radio und Internet abschalten?

Sich zu informieren ist sicher wichtig, aber man muss ja nicht jede Diskussionsrunde mitverfolgen und den ganzen Tag den Live-Ticker im Auge behalten. Hilfreicher ist es, zum Beispiel eine Lebensbiografie von jemandem zu lesen, der eine schwierige Situation gemeistert hat. Das bietet neue Sichtweisen und relativiert unsere gegenwärtigen Probleme.



Wir müssen gerade einen grossen Teil unseres Verhaltens in kurzer Zeit ändern. Eine Herausforderung.

Die Geschwindigkeit ist wirklich enorm. In der Psychotherapie sprechen wir von mehreren Monaten, bis ein Mensch sein Verhalten ändert, und das meist aus innerer Motivation. Nun werden uns alle paar Tage neue Vorschriften von aussen diktiert. Das ist tatsächlich herausfordernd. Aber wir werden lernen, damit umzugehen, uns anzupassen und neue Wege zu gehen.

26.03.2020 :: Silvia Wullschläger (sws)