Die Freiheit aushalten

«Zur Freiheit hat Christus uns befreit!», ruft Paulus den Christen in Galatien zu (Gal 5, 1). Er hat erfahren, wie der Christusglaube ihn frei gemacht hat vom Druck, religiöse Leistungen und Verpflichtungen zu erbringen. Das Einhalten von Opferriten, Fastenzeiten und Reinheitsvorschriften ist für ihn definitiv von gestern, und es erstaunt ihn, dass es in Galatien Christen gibt, die sich nach der Sicherheit solcher Vorschriften sehnen. Offenbar finden sie in der Freiheit zu wenig Halt und Verbindlichkeit. Ja, die Freiheit muss man auch aushalten. Es ist bequemer, in ein System von Rechten und Pflichten eingebunden zu sein als immer selber entscheiden zu müssen, was gut und was böse ist.

In den Jahrhunderten nach Paulus hat sich diese Haltung dann auch durchgesetzt. Die Kirche hat sich als Dienstleisterin verstanden, den Gläubigen die Verantwortung für ihr Seelenheil abzunehmen: «Wenn ihr tut, was wir sagen, kommt es schon gut.» Heute hat die Kirche dieses Monopol verloren. Aufklärung, Reformation und Wissenschaft haben dazu beigetragen, dass Menschen begannen, selber zu denken, die «Freiheit eines Christenmenschen», wie Luther es formulierte, wieder zu entdecken. Die Kirchen leerten sich. Aber andere Anbieter von Lebenshilfen traten an ihre Stelle: Ideologien, Materialismus, Unterhaltung. Auf ihre Art nehmen auch sie uns die Verantwortung für unser Glück ab: «Wenn ihr tut, was wir sagen, kommt es schon gut.» Und wir denken, wie «man» denkt, ziehen an, was «man» anzieht, kaufen, was «man» kauft und sind so eigentlich nicht viel weiter als damals im Mittelalter. Dabei wären wir dazu befreit, in Freiheit und Verantwortung (und unter heftigen Diskussionen mit anders Denkenden) unseren eigenen Weg zu finden, nicht zu müssen, sondern zu wollen. Halten wir diese Freiheit aus?



09.01.2020 :: Samuel Burger